Der Flüchtlingsschutz Europas ist beschämend!

Politik der Angst vor drohenden Flüchtlingsströmen: Auch Deutschland blockiert wichtige Vorhaben und trägt zur zunehmenden Abschottung Europas bei

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Immer mehr der über 40 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen auf der Welt verlieren die Perspektive in naher Zukunft in ihre Heimatländer zurückkehren zu können und brauchen neben humanitärer Hilfe immer häufiger auch eine neue Heimat. Die Situation von Flüchtlingen in europäischen Außenstaaten wie Griechenland oder Malta ist katastrophal. Deutschland wird dabei seiner Verantwortung nicht gerecht und verweigert sich einem verbindlichen Lastenausgleich im europäischen Flüchtlingsschutz. Stattdessen beharrt die Bundesregierung auf der Idee freiwilliger und sporadischer Unterstützung. Damit blockiert sie alle Chancen für einen verantwortungsvollen und menschlichen Flüchtlingsschutz in Europa.

Heute ist der 20. Weltflüchtlingstag. Unter dem Motto „They took our homes, but they can't take our future“ erinnert das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen an die dramatische Situation der 42 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen weltweit. Während die Zahl der Flüchtlinge, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention als solche anerkannt sind, in den letzten 20 Jahren etwa um die Hälfte geschrumpft ist, zeigt die aktuelle Krise in Kirgistan, dass auch im 21. Jahrhundert das Flüchtlingsproblem einer weltweiten Aufmerksamkeit bedarf. Das Leid der Menschen, die weltweit von Krieg und Vertreibung betroffen sind, ist weiter dramatisch und muss von der internationalen Gemeinschaft bekämpft werden.

Resettlement-Programme werden immer wichtiger!

Was die nach wie vor alarmierende Entwicklung der weltweiten Flüchtlingssituation ausmacht, stellte letzte Woche der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, António Guterres, in einer Grundsatzrede klar. Auf dem Flüchtlingssymposium der Evangelischen Akademie nannte er die deutlichste Veränderung: die stetig sinkenden Chancen vieler Flüchtlinge auf eine baldige Rückkehr in die Heimatländer - etwa für Menschen aus Afghanistan, dem Südsudan, dem Kongo oder auch Iran. Im letzten Jahr konnten nur 250.000 Menschen in ihre Heimatländer zurückkehren.

Dies ist nur noch knapp ein Viertel der durchschnittlichen Rückkehrerzahlen der letzten 10 Jahre. Deswegen betont Guterres, dass es immer wichtiger sein wird, Flüchtlingen nicht nur Asyl zu gewähren, sondern ihnen eine dauerhafte Lebensperspektive in Drittländern durch sogenannte Resettlement-Programme zu verschaffen.

Vier Fünftel der weltweit Schutzbedürftigen werden von Entwicklungsländern aufgenommen!

Die Europäische Union, die wirtschaftlich führende und wohlhabendste Region der Welt, die vier der acht stärksten Industrienationen beheimatet, wird seiner politischen und humanitären Verantwortung vor diesem Problem der Weltgemeinschaft nicht ausreichend gerecht. Vier Fünftel der weltweit Schutzbedürftigen werden von Entwicklungsländern aufgenommen! Die Zahl der 2008 eingereichten Erstasylanträge in Europa lagen bei 286.700.

Der Gastgeber der Fußball-WM, Südafrika, kann hier mit 220.000 eingereichten Anträgen erstaunlich gut mithalten. Der Anteil von EU-Ländern an der Gesamtmenge weltweit neu angesiedelter Flüchtlinge lag 2008 nur bei 6,7 %.

Europäische Asylpolitik: Befriedung protektionistischer Interessen

Der Grund dafür ist klar: Im Stockholmer Programm, welches unter anderem die Ziele einer gemeinsamen europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik festlegt, wird zu viel Spielraum für Maßnahmen gelassen, die dem erklärten europäischen Ziel, Europa „als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu stärken und eine solidarische Flüchtlingspolitik zu betreiben, massiv entgegenwirken.

Europäische Schlüsselprojekte wie die Grenzschutzarbeit von Frontex oder die Dublin-II-Verordnung scheinen vor allen Dingen darauf angelegt zu sein protektionistische Interessen der Mitgliedstaaten zu befrieden. Eine zunehmende Abschottung Europas vom Flüchtlingsproblem ist die Konsequenz.

Laute Stimmen aus der Zivilgesellschaft wie von ProAsyl oder Amnesty International und mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs waren notwendig, um der politischen Führung klarzumachen, dass die Zurückdrängung und die „Umleitung“ von Flüchtlingen auf hoher See an Drittstaaten durch Frontex-Beamte gegen Grundsätze der Genfer Konvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen.

Libyen und Italien

Gleiches gilt für das bilaterale Abkommen zwischen Libyen und Italien, nach dem Flüchtlinge noch in libyschem oder in internationalem Hoheitsgewässer abgefangen und unter katastrophalen und menschenunwürdigen Bedingungen in libyschen Straflagern interniert werden. In diesem Land, das kein Asylrecht kennt, werden persönliche Rechtsansprüche rigoros missachtet und die weitere Lebensperspektive der Asylsuchenden bleibt völlig ungewiss.

Die EU hat sich nun zu einer Änderung der Frontex-Verordnung verpflichtet, in der das Verbot der Zurückweisung von Flüchtlingen auf Hoher See verankert werden soll. Der bilaterale Freundschaftsvertrag zwischen Libyen und Italien bleibt von diesem Vorhaben unangetastet. Ein scharfe Verurteilung dieses Abkommens durch andere EU-Staaten? Fehlanzeige!

Dublin-II: Abschiebungen und unfaire Asylverfahren

Abschottung erfolgt indirekt auch durch die Dublin-II-Verordnung, die vorsieht, dass Asylbewerber an das EU-Land übergeben werden können, in dem sie als erstes registriert worden sind. Dies führt zwangsläufig zu einer Entlastung der Binnenländer wie Deutschland und einer weiteren Belastung der Grenzländer durch Schutzbedürftige. Vertreter der Bundesregierung werden nicht müde, die Überstellung von knapp 3000 Asylsuchenden im Vorjahr als Erfolg des Dublin-II-Systems zu werten. Dass darunter auch knapp 500 Überstellungen an Griechenland waren, wo die Schutzquote von Asylsuchenden unter 1% liegt und die Menschenrechtslage katastrophal ist, gibt dieser Wertung eine zynische Note.

Klagen vor Verwaltungsgerichten und dem Bundesverfassungsgericht und durch private Spendengelder finanzierte Gutachten waren in den vergangenen Jahren notwendig, um mit Nachdruck die deutsche Politik auf die skandalösen Bedingungen für Asylsuchende in den EU-Grenzstaaten wie Griechenland, Zypern oder Malta aufmerksam zu machen.

Denn auf die meisten Schutzbedürftigen wartet hier kein faires Asylverfahren und eine menschenwürdige Obdach, sondern ein Überleben auf der Straße, eine dauerhafte Inhaftierung oder die unrechtmäßige Abschiebung in Drittstaaten.

Das Bundesverfassungsgericht greift ein

Die Abschiebungen von Asylsuchenden nach Griechenland nach der Dublin-II-Verordnung wurden in Deutschland bis zu einem ausstehenden Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in dieser Sache nahezu vollständig ausgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht prüft momentan, ob es verfassungskonform ist, dass Asylsuchende nach Griechenland abgeschoben werden können, ohne eine rechtliche Garantie zu haben in einem Eilverfahren Einspruch gegen die Abschiebung aus Deutschland erheben zu können und ob solange die Abschiebung aufgeschoben werden muss.

Das Urteil, das noch Ende diesen Sommers fallen soll, wird richtungsweisend für die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik sein. Denn das Gericht wird klären, ob Deutschlands europaweit einzigartig rigides Asylgesetz korrigiert und an die europäische Gesetzgebung angepasst werden muss. Momentan gesteht es Flüchtlingen kein Recht auf Einspruch gegen eine Abschiebung zu, sofern sie an einen „sicheren Drittstaat“, über den ihr Weg nach Deutschland führte, abgeschoben werden können.

Dass das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung in dieser Sache Hausaufgaben aufgeben wird, gilt als sehr wahrscheinlich. Denn durch den Amsterdamer Vertrag besitzt der Europäische Gesetzgeber die Kompetenz zur Harmonisierung des Asylrechts der EU-Staaten und kann zwingend die Anpassung von nationalem Recht an das EU-Grundrecht einfordern. Nach dem EU-Grundrecht muss jedem Menschen ausnahmslos ein vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden.

Bedingungen für Asylsuchende in Griechenland und Menschenrechte

Wenn außerdem das Bundesverfassungsgericht das Urteil verschiedener Verwaltungsgerichte bestätigen wird, dass die Bedingungen für Asylsuchende in Griechenland mit den Menschenrechten nicht vereinbar sind und gegen deutsches und europäisches Recht verstoßen, könnte dies auch ein wichtiges politisches Signal für Europa bedeuten.

Vielleicht sähen sich dann einige EU-Staaten und auch die Bundesregierung genötigt über einen effektiven Lastenausgleich von Asylsuchenden innerhalb der Europäischen Union nachzudenken. Denn das eingerichtete europäische Unterstützungsbüro und der Europäische Flüchtlingsfond werden ohne verbindliche Regelungen zum Lastenausgleich nur Scheininstrumente einer fehlenden solidarischen Flüchtlingspolitik bleiben.

Verteilungsschlüssel

Neben dem bereits entworfenen Vorschlägen der EU-Komission für ein gemeinsames Resettlement-Programm wird daher unter EU-Politikern auch über einen europäischen Verteilungsschlüssel nachgedacht, der zu erbringende Leistungen der EU-Länder im Flüchtlingsschutz nach strukturellen Kriterien wie Bevölkerungsgröße, Infrastruktur und finanziellen Mitteln der Länder verbindlich festlegen könnte.

Momentan werden solche Vorhaben aber besonders von Deutschland und Österreich blockiert. Die Ursachen der verantwortungslosen Flüchtlingspolitik Europas sind daher nicht nur bei den EU-Außenstaaten, sondern besonders bei dem wirtschaftlich und politisch einflussreichsten Binnenland zu suchen.

„Deutschland leidet unter einem Trauma!“

Deutschland, so formulierte es der auf Asylrecht spezialisierte Rechtsanwalt Dr. Reinhart Marx, auf dem Berliner Flüchtlingssymposium am vergangenen Dienstag provokant, leide unter einem Trauma! Der rasante Anstieg von Flüchtlingsanträgen Anfang der 90er Jahre, der durch den Zerfall der Sowjetunion und durch die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem ehemaligen Staatsgebiets Jugoslawiens verursacht wurde, und in den Jahren 1990 bis 1992 ein Antragsvolumen von 900.000 Stück erreichte, hat laut Marx in der Bevölkerung eine Angst vor Flüchtlingsscharen in Millionengröße hervorgerufen, die Deutschland befallen könnte,wenn nicht entsprechende Vorkehrungen getroffen würden.

Und in der Tat hat die Angst vor einer übermäßigen Belastung vor Flüchtlingsgesuchen den breiten politischen Willen für einen Asylkompromiss hervorgebracht, der durch eine Änderung des Grundgesetzes und des Asylverfahrensgesetzes im Jahre 1993 zur Implementierung der umstrittenen Drittstaatenregelung führte.

Wie Flüchtlingsschutz zur „Flüchtlingsbekämpfung“ wird

Es scheint nicht unplausibel, wenn man versucht die weitestgehende Gleichgültigkeit der deutschen Öffentlichkeit und des deutschen Wählers gegenüber den fatalen Menschenrechtsverletzungen im europäischen Flüchtlingsschutz mit der hartnäckigen und latenten Angst vor drohenden Flüchtlingsströmen zu erklären. Ein Flüchtlingsschutz, der sich heute immer stärker auf eine effektive Flüchtlingsabwehr konzentriert, oder auf eine effektive „Flüchtlingsbekämpfung“, um einen Terminus der Bundeskanzlerin zu verwenden.

Die Angst des Volkes wird von der politischen Elite gefüttert: „Wir müssen uns auf zunehmende Migrationsströme einstellen!“ „Wir brauchen ein integriertes Grenzmanagement!“ „Wir müssen dem Missbrauch des Asylsystems vorbeugen!“. Mit diesen Worten versuchte letzte Woche der parlamentarische Staatssekretär vom Bundesministerium des Innern, Ole Schröder, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Änderungsvorschläge der EU-Komission zum Dublin-II -Verfahren, allen Flüchtlingen einen einstweiligen Rechtsschutz zu garantieren, und innerhalb des Stockholmer Programmes ein System des europäischen Lastenausgleichs voranzutreiben, eindeutig zu weit gehen würden.

Und wenn nach Deutschlands Beitrag für einen solidarischen europäischen Flüchtlingsschutz gefragt wird, verweisen hohe Regierungsbeamte, wie unsere Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, auf die freiwillige Übernahme Deutschlands von 100 Flüchtlingen aus Malta.

Beschämender Einsatz

Für Menschen, die von der sozialen Not von hunderttausenden Flüchtlingen in Griechenland und Malta keine Notiz genommen haben; die nicht wissen, dass in den nächsten Jahren Zehntausend Sinti und Roma von Deutschland in ein vergleichbares soziales Elend in den Kosovo abgeschoben werden sollen; oder dass bei dem Versuch das Festland von EU-Staaten an der Mittelmeerküste zu erreichen jährlich über 1500 Menschen sterben; und dass Tausende von Flüchtlingen und Asylsuchende in unmöblierten und überfüllten Strafzellen in Libyen festsitzen – für diese Bürger mögen die Worte der Regierungsvertreter eine beschwichtigende Wirkung auslösen.

Für alle anderen Bürger, die ungefähr erahnen können, wie es um den europäischen Flüchtlingsschutz wirklich bestellt ist, dürften diese Worte eigentlich nur Ärger und Scham hervorrufen. Aber irrationale Ängste und Unwissenheit in Fragen des Flüchtlingsschutzes gelten leider- und hier gibt neben verschrobenen Politikerfloskeln eine mangelnd differenzierte Medienberichterstattung ihr Übriges – als symptomatisch für den deutschen und wohl auch für den europäischen Wähler.

Es ist daher keine Besonderheit, sondern kennzeichnend für den unaufrichtigen europäischen Umgang mit der weltweiten Flüchtlingsproblematik, dass der Generalsekretär des Europäischen Flüchtlingsrates, Bjarte Vandvik, seine Rede auf dem Berliner Symposium mit dem Hinweis beenden musste, dass die Vereinigten Staaten von Amerika 500 Flüchtlinge und damit fünfmal mehr Asylsuchende als Deutschland aus Malta aufgenommen haben und dass er sich bei allem Respekt für ein Europa schäme, welches sich nicht in der Lage sieht, ein Flüchtlingsproblem in dieser Größenordnung alleine bewältigen zu können.

Eine Frage des Willens: Die Politik der Abschottung geht weiter

Wenn man sich die demographischen und wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven Europas vor Augen führt, woran zu erinnern der Hohe Flüchtlingskommissar Guterres nicht müde wird, wird klar, dass ein angemessener Flüchtlingsschutz in Europa nicht vorrangig eine Frage des Könnens, sondern vor allen Dingen eine Frage des politischen Willens ist. Europa ist auf Zuwanderung angewiesen und Resettlement-Programme könnten ein Eckpfeiler einer kontrollierten Zuwanderung sein, die auch im Interesse der Zukunftsfähigkeit der europäischen Länder liegen würde.

Leider ist zu erwarten, dass Deutschland und seine europäischen Nachbarstaaten angesichts der verbreiteten Angst vor Flüchtlingsströmen und der wachsenden Xenophobie in Europa die Abschottungspolitik an den EU-Außengrenzen mit der Unterstützung des europäischen Wählers fortsetzen werden. Kritische Urteile der höchsten Gerichte auf nationaler und europäischer Ebene, dass konnten die Deutschen zuletzt im Falle der Harz IV-Gesetze erleben, werden hier für einen langfristigen Politikwechsel nicht ausreichen.