Billige Arbeitskräfte in der Sackgasse

Mittlerweile gibt es rund 750.000 1-Euro-Jobs. Sie verdrängen reguläre Arbeitsplätze und bieten kaum Perspektiven. Offenbar wird nur 12 Prozent der Betroffenen überhaupt eine Vollzeitstelle angeboten

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Der Bundesrechnungshof beschäftigt sich im Rahmen seiner Prüfungen der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes auch mit der „Durchführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende“ und fand in den vergangenen Jahren immer wieder Grund zur Beanstandung.

Kritisiert wurden missverständliche Regelungen im sogenannten SGB II, rechtswidrige Interpretationsversuche in den einzelnen Ländern und Kommunen, eine „uneinheitliche Verwaltungspraxis“ oder der "unwirtschaftliche Mittelverbrauch".

Insbesondere die „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“, die in der weniger nebulösen Umgangssprache 1-Euro-Jobs heißen, dienen nicht dem Ziel eines „rechtskonformen, zielgerichteten und wirtschaftlichen Einsatzes“, stellte der Bundesrechnungshof noch Ende 2008 fest. Zwei Drittel der geprüften Maßnahmen erfüllten erst gar nicht die gesetzlichen Fördervoraussetzungen, überdies blieben die 1-Euro-Jobs „für drei von vier Hilfsbedürftigen weitgehend wirkungslos“.

Neue Sozialkontakte, alte Perspektiven

Der Gesetzgeber hatte sich das anders gedacht oder den Sachverhalt anders kommuniziert. Eigentlich sollten 1-Euro-Jobs nur in den Fällen eingesetzt werden, in denen besser bezahlte und effektivere Eingliederungsmöglichkeiten nicht realisierbar sind - und dann eine Perspektive für die baldige Rückkehr auf den ersten Arbeitsmarkt bieten.

Dass beides nicht zu funktionieren scheint, belegt nun die Studie "Praxis und neue Entwicklungen bei 1-Euro-Jobs" des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die auf einer repräsentativen Befragung von Ein-Euro-Jobbern basiert. Zwischen 2005 und 2007 wurden Menschen interviewt, die in „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“ beschäftigt waren oder bereits entsprechende Erfahrungen gesammelt hatten. Viele von ihnen machten schon bei den Vermittlungsgesprächen in den Arbeitsagenturen Bekanntschaft mit den Defiziten der staatlichen Arbeitsmarktpolitik.

Jede/r vierte erwerbsfähige Hilfebedürftige hatte keine ausführlichen Gespräche bei der ARGE, jede/r dritte hat kein Stärken-Schwächen-Profil erstellt bekommen, jede/r zweite keine Beratung für Bewerbungsgespräche erhalten.

DGB: Praxis und neue Entwicklung bei 1-Euro-Jobs

Nur 12 Prozent der Befragten, die im Untersuchungszeitraum einen 1-Euro-Job hatten, wurde eine reguläre Vollzeitstelle angeboten, wobei sich die Situation für weibliche Bewerber noch deutlich problematischer darstellte.

Eine geschlechtsspezifische Ausdifferenzierung zeigt, dass 15 Prozent der Männer, aber nur acht Prozent der Frauen eine Vollzeitbeschäftigung offeriert wurde. Alternative Maßnahmen, etwa im Bereich der Weiterbildung, werden ebenfalls nur gelegentlich in Erwägung gezogen. Genug Defizite, um Betroffene zur Formulierung einer gut begründeten Widerspruchserklärung zu motivieren.

Trotz dieser ernüchternden Zahlen und des immerhin bemerkenswerten Umstandes, dass die flächendeckende Einführung dieser Art Mini-Jobs von manchen Beobachtern als klarer Verstoß gegen das Völkerrecht gewertet wird, wurden die Regelungen des SGB II und die Möglichkeit, für eine befristete Zeit im 1-Euro-Bereich zu arbeiten, nicht durchweg negativ bewertet.

83 Prozent sahen in dem Beschäftigungsverhältnis immerhin die Möglichkeit, „etwas Sinnvolles zu tun und unter Menschen zu kommen.“ Die – wenn auch geringe - Verbesserung der finanziellen Situation spielte in den Überlegungen ebenfalls eine wichtige Rolle. Im Osten Deutschland bewarben sich erstaunliche 41 Prozent der Befragten eigeninitiativ um einen 1-Euro-Job (Westdeutschland: 26 Prozent).

Das bedeutet, insbesondere in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit werden 1-Euro-Jobs scheinbar besser bewertet, da sie mangels anderer Alternativen der Arbeitslosigkeit vorgezogen werden. In der Not wird so nach jedem Strohhalm gegriffen, unabhängig davon, ob sich daraus längerfristige Perspektiven eröffnen oder nicht.

DGB: Praxis und neue Entwicklung bei 1-Euro-Jobs

An diese längerfristigen Perspektiven glaubte knapp zwei Drittel der Befragten aber ohnehin nicht. 64 Prozent rechneten nicht damit, durch ihren 1-Euro-Job wieder eine reguläre Beschäftigung zu finden, und die Forschung gibt ihnen in diesem Punkt unzweifelhaft Recht.

Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung stellte in einer Untersuchung Anfang 2008 fest, dass Ein-Euro-Jobs die Eingliederungschancen und Beschäftigungsfähigkeit mancher Teilnehmer zwar „innerhalb der ersten 20 Monate nach Maßnahmebeginn“ erhöhen können. Eine erfolgreiche Beseitigung der Hilfebedürftigkeit werde jedoch „innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt in einen Zusatzjob“ nicht erzielt, resümierten die Autoren Katrin Hohmeyer und Joachim Wolff.

Die Ultima Ratio als Regelfall

Bei der Diskussion über die Folgen, die SGB II und vor allem die flächendeckende Einführung von 1-Euro-Jobs mit sich bringen, geht es freilich nicht nur um individuelle Fälle und persönliche Einschätzungen oder Befindlichkeiten. Der DGB kritisiert vor allem, dass diese Form einer sozialrechtlichen Beschäftigung ohne Arbeitsvertrag mittlerweile ganz unabhängig vom Verlauf der Konjunktur „im großen Stil“ eingesetzt wird.

2008 nahmen bundesweit 764.000 Menschen an einem 1-Euro-Job teil, andere, qualitativ möglicherweise höherwertige Instrumente der Arbeitsmarktförderung spielten dagegen kaum noch eine Rolle. Von einer überzeugenden Eingliederungsstrategie kann gleichwohl keine Rede sein, meint die Gewerkschaft. Weil dieser Aspekt in den SGB II-Richtlinien zu undeutlich definiert werde, zielten die Bemühungen zu oft auf „Quantität von der Stange statt Qualität im Einzelfall“. Dass 1-Euro-Jobs mittlerweile Regelfälle des Arbeitsmarktes geworden sind, führt der DGB auf eine Fehlsteuerung des Gesetzgebers zurück.

Insbesondere ist es aus fiskalischer Sicht für SGB II Träger attraktiv, in großer Zahl 1-Euro-Jobs anzubieten, denn aus ihrem Eingliederungsbudget müssen sie nur die Mehraufwandsentschädigung und die Trägerpauschale (zusammen rund 500 Euro) finanzieren. Das Gros der Gesamtkosten bei 1-Euro-Jobs macht die Weiterzahlung des ALG II bzw. des Sozialgelds für Kinder und der Unterkunftskosten aus. Da dies aber passive Pflichtleistungen sind, müssen Bund bzw. Kommune (bei der Miete) außerhalb der arbeitsmarktpolitischen Förderung für diese Kosten aufkommen.

DGB: Praxis und neue Entwicklung bei 1-Euro-Jobs

Die geplante Neufassung der Arbeitshilfe könnte bei optimaler und flächendeckender Umsetzung wenigstens in Teilbereichen Abhilfe schaffen. Wenn ARGEn und Optionskommunen jede Maßnahme hinsichtlich der Fördervoraussetzungen prüfen müssen und pauschale Bewilligungen von Rechts wegen nicht mehr erlaubt sind, gibt es erkennbar weniger Spielraum für den inflationären Einsatz von 1-Euro-Jobs.

Verdrängung regulärer Arbeitsplätze

Umstritten ist nach wie vor die Frage, inwieweit 1-Euro-Jobs reguläre Beschäftigungsverhältnisse verdrängen und damit kontraproduktive Effekte auf dem Arbeitsmarkt entfalten. Dabei kann die gesetzliche Vorgabe kaum missverstanden werden. Alle auszuführenden Arbeiten müssen demnach "zusätzlich, im öffentlichen Interesse und wettbewerbsneutral" sein.

Die aktuelle Untersuchung des DGB deutet allerdings darauf hin, dass die Spielräume, die der staatlich geförderte Billiglohnsektor den Trägern bietet, in großem Umfang genutzt werden. 68 Prozent aller Teilnehmer an den 1-Euro-Jobs konnten eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss vorweisen, fast jede(r) Zweite gab an, während der Maßnahmen die gleichen Tätigkeiten ausgeführt zu haben wie festangestellte Mitarbeiter.

Demnach könnte zumindest ein Viertel der 1-Euro-Jobs einer regulären Beschäftigung entsprechen, also eine Tätigkeit sein, für die eine Berufsausbildung notwendig ist, die von einem Teilnehmenden mit Berufsausbildung gemacht wurde, der das Gleiche gemacht hat, wie Festangestellte.

DGB: Praxis und neue Entwicklung bei 1-Euro-Jobs

Der DGB vermutet darüber hinaus, dass die Träger 1-Euro-Jobs vor allem in Ostdeutschland gezielt als „Marktersatzmaßnahme für vermeintlich oder auch tatsächlich fehlende andere Beschäftigungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten“ einsetzen. Tatsächlich übersteigt der Anteil bei den 1-Euro-Jobs (42 Prozent) hier deutlich den Anteil an der Arbeitslosigkeit (33 Prozent).

Düstere Prognosen

Wie die Situation von Erwerbslosen und Menschen, die in 1-Euro-Jobs beschäftigt sind, in der nahen Zukunft aussehen wird, hängt naturgemäß von der Gesamtentwicklung des Arbeitsmarktes ab. Und diese gibt wenig Anlass zur Hoffnung, wie der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, Ende Mai in einer Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales mitteilte.

Weise rechnet damit, dass die durchschnittliche Arbeitslosigkeit im laufenden Jahr etwa fünf bis sechs Prozent höher ausfallen wird als 2008. Außerdem müsse von einem deutlichen Rückgang sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse ausgegangen werden.

Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze sinkt derzeit wieder. Der Aufbau von zwei Millionen sozialversicherungspflichtiger Jobs in den vergangenen Jahren geht zurück.

Frank-Jürgen Weise

Besonders schwierig ist die Situation offenbar für Langzeitarbeitslose und gering Qualifizierte im SGB-II-Bezug, bei denen Weise ein „Abgangsproblem“ diagnostizierte. Beide Personengruppen hätten auf dem Arbeitsmarkt momentan „extrem schlechte Chancen“.

Unter den Bedingungen der Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich die Lage selbstredend nicht verbessert, doch es gibt offenbar auch zahlreiche strukturelle Probleme und Fehlentwicklungen, die zur Destabilisierung des deutschen Arbeitsmarktes beitragen.

Eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kommt zu dem Ergebnis, dass an jedem Arbeitstag der vergangenen zehn Jahre durchschnittlich 30.000 Arbeitsverhältnisse begonnen und ebenso so viele beendet wurden. Die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt werde häufig unterschätzt, gaben die Nürnberger Arbeitsmarktforscher zu Protokoll. Im übrigen sei bereits seit knapp zwei Jahren Monat für Monat ein Rückgang der gemeldeten offenen Stellen zu beobachten – zwischen April 2008 und April 2009 sank ihre Zahl um 97.000 oder 16 Prozent.

Da die Konkurrenz um die knapper werdenden offenen Stellen zunehmend härter wird, dürften die Chancen für Personen mit geringer Qualifikation oder anderen die Beschäftigungsfähigkeit einschränkenden Merkmalen sinken. Dies wird insbesondere die Integration von Arbeitslosen im Rechtskreis des SGB II erschweren. Insgesamt sind in Folge der Krise vermehrte Übergänge aus dem SGB III in das SGB II sowie ein Wiederanstieg der Langzeitarbeitslosigkeit zu erwarten. Dies birgt auch die Gefahr, dass sich die Arbeitslosigkeit verhärtet und dadurch die Sockelarbeitslosigkeit wieder steigt.

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung

Forderungen der Gewerkschaft

Der DGB und viele Einzelgewerkschaften traten trotz öffentlicher Proteste nicht immer als entschiedene Gegner der Hartz-Reformen in Erscheinung und waren mit Vertretern aus den eigenen Reihen in der berühmten „Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ des Jahres 2002 vertreten. Doch die spürbare Betroffenheit der eigenen Klientel (Ein frühes Beispiel aus dem Jahr 2005: hier) scheint den letzten Rest Reformoptimismus zerstört zu haben.

Nun wurde aus der Analyse ein Maßnahmenkatalog entwickelt, der die offensichtlichsten Fehlsteuerungen beheben soll. Die Gewerkschaft fordert, dass nur „in begründeten (Einzel-)Fällen“, die der zielgerichteten Heranführung an einen Arbeitsplatz dienen, auf dieses mittlerweile dominante Instrument der deutschen Arbeitsmarktförderung zurückgegriffen wird. Sämtliche Maßnahmen sollen durch einen Sozialpartnerausschuss - mit Vetorecht - auf Verdrängungseffekte und öffentliches Interesse geprüft, obendrein auf freiwilliger Basis angeboten und auf eine wöchentliche Arbeitszeit von maximal 20 Stunden pro Woche begrenzt werden. Neben der Beseitigung von finanziellen Fehlanreizen plädiert der DGB aber vor allem für die Überwindung einer Konkurrenzsituation, von der langfristig niemand der Betroffenen profitieren kann.

Kein Ersatz für öffentlich geförderte Beschäftigung in sozialversicherungspflichtigen Jobs mit Löhnen nicht unter 7,50 €/Stunde.

DGB: Praxis und neue Entwicklung bei 1-Euro-Jobs