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Einblicke in die Geschäfte kolumbianischer Paramilitärs nach ihrer "Demobilisierung"

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„Bereite sie auf die Waffenabgabe vor, damit sie wenigstens marschieren können und unsere Hymne kennen.“ Was alle wissen und Kolumbiens Regierung mit nicht zu erschütternder Gewissheit leugnet, enthüllt jetzt das Laptop von Jorge Cuarenta, einem der einflussreichsten Chefs der Paramilitärs: Einige der angeblich 30.000 demobilisierten Kämpfer der rechten Milizen waren kurzfristig angeworbene Außenstehende. Der Kern der Truppe ist weiter aktiv, auch militärisch.

Die Staatsanwaltschaft fand auf dem Laptop auch Namen und persönliche Angaben von 558 Ermordeten. Sie waren keine Guerilleros, die im Gefecht getötet wurden, sondern Bauern, die ihr Land nicht hergaben, oder Gewerkschafter und soziale Aktivisten, die sich den Paramilitärs an der Karibikküste entgegen stellten. Die Liste behandelt übrigens nur die Jahre 2003 bis 2005, und sie umfasst nur Morde im Departement Atlantico und der Hafenstadt Barranquilla. Bei der Durchsicht ihrer eigenen Unterlagen stellt die Staatsanwaltschaft fest, dass nur bei 245 dieser Morde Ermittlungen aufgenommen worden waren - alle ohne Ergebnis.

Jorge Cuarenta, bürgerlich Rodrigo Tovar Pupo, ist gemeinsam mit Salvatore Mancuso Chef des nördlichen Blocks der „Vereinten Selbstverteidiger“ (Autodefensas Unidas de Colombia). Er hat sich erst vor einem Monat den Behörden gestellt, nachdem diese die Fahndung intensiviert hatten. Schon im März diesen Jahres hatten 2.500 Kämpfer seines „Bloque Norte“ die Waffen abgegeben. Bei verschieden Demobilisierungszeremonien hatten örtliche Beobachter bemerkt, dass die Waffen nicht besonders neu und nicht alle Anwesenden wie Milizionäre aussahen. Nun hat es die oben zitierte Mail von Jorge Cuarenta bestätigt.

Die Veröffentlichung einiger Tonmitschnitte, Emails und Textdokumente von dem Computer, der bei Jorges Adjudanten sichergestellt wurde, könnte die Macht des vor wenigen Wochen wiedergewählten Präsidenten Alvaro Uribe ins Wanken bringen. Denn die „Demobilisierung“, muss nun auch dem gutgläubigsten städtischen Mittelschichtskolumbianer als das erscheinen, was die Bewohner der betroffenen Regionen und Menschenrechtsorganisationen von Amnesty International und Human Rights Watch bis zum Vertreter des UN-Hochkommissariats schon lange darin sehen: eine Farce.

Die publikumswirksam inszenierte Entwaffnung der Paramilitärs war das Herzstück von Uribes Kampagne der „demokratischen Sicherheit“, mit der sich Südamerikas derzeit einziger rechtsgerichteter Präsident seine Wiederwahl sicherte ("Unersetzbarer Retter"). In mehreren Etappen hatten die meisten Einheiten der Milizen bis Anfang des Jahres ihre Waffen abgegeben - im Austausch gegen eine weitreichende Amnestie. Das "Gesetz für Gerechtigkeit und Frieden" begrenzt im Fall eines Geständnisses die Haft selbst bei Kapitalverbrechen wie Massenmorden, Vergewaltigungen und dem großangelegten Kokain-Schmuggel auf maximal acht Jahre (Straffreiheit für Todesschwadronen).

Zudem befristet das Gesetz die Ermittlungen auf 60 Tage nach Abgabe der Waffen. Das erschwert es der Staatsanwaltschaft außerordentlich, die illegalen Wirtschaftsimperien zu entflechten. Denn entgegen der Behauptung der Autodefensas, eine bewaffnete politische Bewegung zu sein, handelt es sich bei der Führung der Paramilitärs eher um das, was in mit dem Begriff des Gewaltunternehmers beschrieben werden kann. Dabei handelt es sich um Akteure, die als Unternehmer am Markt handeln, allerdings auf einem Markt mit illegalisierten Gütern, wo Gewalt eine wichtige Resource zu Erlangung von Marktmacht und zur Durchsetzung von Verträgen und Normen ist. Vom bewaffneten Schmuggel ausgehend kann der Gewaltunternehmer sein Geschäftsfeld erweitern und selbst mit Gewalt handeln, die er anderen Unternehmern und Politikern zur Verfügung stellt; oder er nutzt Gewalt als Ressource in der legalen Sphäre der Wirtschaft, um an diesen Märkten ebenfalls Surplus abzuschöpfen.

Enger Filz mit der Politik

Hauptgeschäft ist der Handel mit Kokain, den Jorge Cuarenta vorwiegend mit Europa abwickelte. Eine gängige Route verlief dabei von Santa Marta mit Bananenfrachtern nach Amberes in Belgien. Jedes so auf den europäischen Markt gelangte Kilo finanziert die Paramilitärs mit etwa 10.000 Euro.

Auch Provisionen aus öffentlichen Aufträgen in den Küstendepartements sind wichtige Einnahmequellen. Die Kontrolle der Gemeindeverwaltungen war oder ist so stark, dass nach Angaben der Staatsanwaltschaft etwa 10 Prozent der Auftragssumme bei kommunalen Ausschreibungen in nahezu allen Gemeinden der östlichen Karibikregion in die Taschen von Jorge Cuarenta floss. Auch bei den kommunalen Einnahmen aus Energie- und Gesundheitsversorgung ging ein Teil an den Bloque Norte. Dazu kommen die Einnahmen aus Schutzgeldern von den örtlichen Unternehmern und Kooperativen.

Offensichtlich können Kolumbiens Gewaltunternehmer die Reduzierung ihrer Truppenstärke gut verschmerzen. Die Fähigkeit zur abschreckenden Gewalt in Form von Massakern wäre auch bei einer ernsthaften Demobilisierung nicht beeinträchtigt. Zudem war mindestens ein Bataillon, die „Frente José Pablo Díaz“, bei der Demobilisierung von Jorges Milizen nicht dabei. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft finanziert sich die Einheit unter anderem durch das städtische Krankenhaus von Soledad, dessen Einnahmen nahezu vollständig an die Truppe fließen.

Die sichergestellten Dokumente beweisen außerdem weit reichende Verflechtungen mit der Politik. Der Gouverneur des Departements Magdalena und der Ex-Gouverneur von Bolivar sind demnach enge - geschäftliche wie politische - Partner Jorges und anderer Paramilitärs. Mit mehreren Senatoren und Kongressabgeordneten der Regierungsparteien fanden Gespräche über eine Unterstützung des Wahlkampfs durch die Paramilitärs statt. An Mitarbeiter des Geheimdienstes, des Militärs und der Staatsanwaltschaft floss Geld aus den Kassen der Paras. Schwer vorstellbar, dass auf dem Laptop nicht noch mehr Namen von Bürgermeistern, hohen Militärs und Beamten zu finden sind. Die kolumbianische Öffentlichkeit wartet jedenfalls gespannt. Unterdessen leugnen die genannten Politiker jede Verbindung zu dem Kommandanten. Lidio García Turbay, Kongressabgeordneter aus dem Departement Bolivar, konnte sich nicht erinnern, „diesen Herren zu kennen“.

Nach den Quellen soll Turbay die Expansion von Jorges Imperium im Departement Bolivar politisch unterstützen. Nur zwei Monate vor der angeblichen Demobilisierung hatte Cuarenta außerdem von einem „neuen militärischen und politischen Projekt“ gesprochen. Offensichtlich will der bisher so erfolgreiche Narco- und Gewaltunternehmer seinen Einfluss von den Departements der östlichen und mittleren Küste auf die gesamte Karibikregion ausweiten.

Dem dienen auch eigene politische Aktivitäten. Die „Frente Social por la paz de Sucre”, die soziale Front für den Frieden im Departement Sucre, sollte sich laut den Dokumenten um die Koordinierung der Beziehungen zu den Verwaltungsebenen kümmern, um den reibungslosen Transfer der 10 Prozent öffentlicher Gelder zu sichern. Vier Abgeordnete der Departements-Versammlung, denen eine Zusammenarbeit mit Jorge Cuarenta nachgewiesen werden konnte, wurden in der vergangene Woche inhaftiert.

Die „Demobilisierung“ der rechten Milizen hat die Netzwerke, die den Handel mit Gewalt und illegalisierten Gütern kontrollieren, kaum durcheinander gebracht. Die Daten von Jorge Cuarentas Laptop zeigen, dass allenfalls die Ressourcen zunehmend diversifiziert werden: Zwar bleibt Marktmacht weiterhin auf bewaffnete Kontrolle von Territorien und Menschen und auf Abschreckung durch Massaker angewiesen, wird nun aber immer stärker durch die Zusammenarbeit mit (oder Infiltration in) bestehenden politischen Netzwerke stabilisiert.