Gewalt auf der Straße

Während sich Brandenburgs Innenminister Schönbohm weiter über die Warnung von Uwe-Karsten Heye echauffiert, spricht die Amadeu-Antonio-Stiftung von 133 Mordopfern seit 1990

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Die „Reisewarnungen“ des ehemaligen Regierungssprechers Uwe-Karsten Heye haben viel Staub aufgewirbelt. „Es gibt kleine und mittlere Städte in Brandenburg und anderswo, wo ich keinem, der eine andere Hautfarbe hat, raten würde, hinzugehen. Er würde sie möglicherweise lebend nicht mehr verlassen“, hatte er Mitte vergangener Woche gesagt (Zu Gast bei Feinden). Heye ist Vorsitzender von Gesicht zeigen! Aktion weltoffenes Deutschland und hat das ausgesprochen, was viele Einwanderer, Flüchtlinge und dunkelhäutige Deutsche seit langem aus eigener, bitterer Erfahrung wissen. Pöbeleien gehören zu ihrem Alltag, nicht nur in Ostdeutschland, aber dort gibt es, wie auch in Westdeutschland, Gegenden, in denen sie jederzeit mit tätlichen Angriffen rechnen müssen. Und wenn sie sich schutzsuchend an die Polizei wenden, können sie sich nicht einmal sicher sein, dort nicht wie Täter behandelt zu werden.

Aber derlei hören deutsche Politiker – egal ob christ- oder sozialdemokratisch – gar nicht gerne. So stießen denn Heyes Warnungen zunächst vor allem auf empörte Reaktionen. Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) fühlte sich besonders auf den Schlips getreten: Heyes Äußerungen seien abwegig. „Das ist eine Verunglimpfung ganzer Regionen in Brandenburg, die durch nichts zu rechtfertigen ist.“ Sein Innenminister Schönbohm (CDU) sattelte noch eins drauf und sprach von einer „unglaublichen Entgleisung“. Platzeck brauchte mehrer Tage, bis er sich zu der Äußerung hinreißen ließ, an Heyes Warnungen sei vielleicht etwas dran.

Zustimmung erfuhr Heye hingegen vom Vorsitzenden des Bundestagsinnenausschusses, Sebastian Edathy (SPD), selbst Sohn eines indischen Einwanderers: „Ich habe eine etwas dunklere Hautfarbe und würde mich nachts nicht in die S-Bahn nach Berlin-Treptow setzen“, sagte er. In Brandenburg kämen vier rechtsextreme Gewaltdelikte auf 100.000 Einwohner; in Rheinland-Pfalz seien es bloß 0,5. Dennoch sah sich Heye gezwungen, ein wenig Öl auf die Wogen zu gießen:

Nein, es geht nicht um Brandenburg, es geht auch nicht darum, eine Region zu stigmatisieren und als besonders fremdenfeindlich darzustellen. Wohl aber geht es darum, dass der Afrika-Rat eine Warnung herausgegeben hat, in der er bestimmte Gebiete auch in Brandenburg als gefährlich für afrikanische Gäste der kommenden Fußball-Weltmeisterschaft ausweist.

Mein schlichter Hinweis, den ich heute dazu im Deutschlandradio Kultur gegeben habe, lautete ganz einfach, wir dürfen es nicht den Opfern überlassen, darüber nachzudenken, wie sie sich gegen Rassismus und Antisemitismus zur Wehr setzen können. Dies ist die Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft. Aber leider hat die Bereitschaft wegzusehen zugenommen. Im Übrigen habe ich die Warnung an die Politik gerichtet, aufzuhören damit, rassistische Übergriffe in Deutschland zu bagatellisieren und klein zu reden, am Ende noch den Opfern die Schuld zu geben, durchgeprügelt oder schwer verletzt worden zu sein.

Uwe-Karsten Heye zu seiner Äußerung

Aber während sich die regierenden weiter im Beschwichtigen übten, holte die Realität sie ein: Am Freitagmorgen noch hatte Berlins sozialdemokratischer Innensenator Ehrhart Körting im Deutschlandradio vollmundig erklärt, er könne dunkelhäutigen Besuchern der Hauptstadt „uneingeschränkt“ empfehlen, „sich zu allen Zeiten alle Ecken Berlins anzuschauen.“ Es gebe keine Gebiete, in die man nicht gehen könne. Wenige Stunden später wird Giyasettin Sayan, seit fast zehn Jahre Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, des Landesparlaments also, von zwei jungen Männern überfallen und zusammengeschlagen (siehe Gefahr von Rechts?). Der rassistische Hintergrund der Tat dürfte eindeutig sein. Der PDS-Parlamentarier berichtet, die Täter hätten mit der Flasche auf Kopf und Gesicht eingeschlagen und dabei unter anderem gesagt: „Scheiß Türke, wir kriegen dich.“

Alltag in Deutschland, auch wenn die meisten Verantwortlichen es nicht wahrhaben wollen. Die Amadeu-Antonio-Stiftung rechnet vor, dass in Deutschland seit 1990 133 Menschen durch rechtsextremistische oder rassistische Gewalt ums Leben kamen. 71 im Westen, 60 im dünner besiedelten Osten. Mit 26 getöteten Menschen nimmt Brandenburg den ersten Platz unter den Bundesländern ein. Auf Platz zwei und drei folgen Schleswig-Holstein mit 17 und Nordrhein-Westfalen mit 15 Todesopfern. Die Stiftung ist nach Amadeu Antonio benannt, einem Angolaner, der im November 1990, das neue Deutschland war gerade einen Monat alt, in Brandenburg von Skinheads zu Tode geprügelt wurde.

Man kann die Gewalt auf der Straße mit einigem Recht als die radikalisierte und individualisierte Variante der grassierenden Abschottungspolitik der EU-Staaten sehen. Unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands hat sich in Europäischen Union eine aggressive Politik gegen Flüchtlinge und Einwanderer durchgesetzt, die jeden Dunkelhäutigen unter Generalverdacht stellt, die nur noch nach dem richtigen Pass schaut und vollkommen unerfindlich für menschliches Leid geworden ist. Abgelehnte Asylbewerber werden selbst nach Afghanistan und in den Irak abgeschoben, alte Asylbescheide von Flüchtlingen aus diesen Staaten gar widerrufen und an den Außengrenzen der EU sterben die Menschen zu Hunderten (siehe auch Mit Satelliten gegen Einwanderer), da es für Flüchtlinge und Arbeitsmigranten aus den meisten Ländern keinen legalen Weg mehr in den Norden gibt.

Seit Anfang diesen Jahres sind auch in Deutschland vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 18.000 Verfahren eingeleitet worden, um die Flüchtlingseigenschaft von Irakern, Afghanen und anderen Schutzsuchenden zu widerrufen. Dabei sind allein 7.000 -9.000 Flüchtlinge aus dem Irak betroffen.“ Daniel Naujoks im Migrationsrecht-Net

Zuhause versuchen sich die Innenpolitiker derweil auf dem Rücken der Einwanderer und Flüchtlinge als Law-and-Order-Männer zu profilieren. In Schleswig-Holstein zwang man zum Beispiel unlängst Ruslan Pristupa zur Ausreise in die Ukraine, einen erfolgreichen Sportler, der nicht nur Titel für seinen Verein holt, sondern sich auch vorbildlich um die sportliche Ausbildung von Jugendlichen in den Armutsstadtteilen der Landeshauptstadt Kiel kümmert. Der Grund: Sein Asylantrag war abgelehnt worden. Die verantwortlichen Politiker im zuständigen Landkreis (Rendsburg-Eckernförde) und im Kieler Landesinnenministerium weigerten sich, ihren Ermessensspielraum zu nutzen. Nicht einmal bei einem mehrfachen Landes- und Norddeutschenmeister in Ringen (Fliegengewicht) mochte man ein öffentliches Interesse an einer Aufenthaltserlaubnis erkennen. Seit über fünf Jahren hatte der Ukrainer in Deutschland gelebt und wollte im Herbst in Kiel Sport studieren. Der Studienplatz war bereits besorgt.

Die Botschaft, die von dieser alltäglichen Politik ausgeht, ist: Einwanderer, Flüchtlinge und selbst dunkelhäutige Touristen sind unerwünscht. Wir werden euch, wenn es nur irgendwie geht, rauswerfen. Man kann hundertmal anführen, dass Ein- und Auswanderung das normalste von der Welt ist, und zwar seit Jahrtausenden und nicht nur in Nordamerika, sondern auch in Europa, insbesondere in dessen Mitte. Man kann tausendmal darauf hinweisen, dass so ziemlich jeder Deutsche nur drei oder vier Generationen in seiner Familiengeschichte zurückgehen muss, um ein paar ausländische Vorfahren zu finden. Das alles hilft überhaupt nichts, solange die große Koalition der Abschieber an ihrer unmenschlichen Politik festhält. Die rechten Schläger – ob in Berlin, Potsdam oder Duisburg – spitzen diese nur weiter zu. Ihrer wird man nur Herr, wenn sich die Einstellung von Behörden und Regierungen ändert. Dann kann sich diese Gesellschaft endlich für eine Integration der Einwanderer öffnen, und die rassistischen Schläger wären isoliert. Mehr Polizei, nach der jetzt von einigen gerufen wird, mag im Einzelfall hilfreich sein, wird aber das Problem nicht lösen. Bestenfalls kann sie, was wohl viele Politiker gerne hätten, für die Zeit der WM das Problem unter den Teppich kehren.