Es werden immer mehr Menschen kommen

In den Ländern Schwarzafrikas erhöht sich durch Bevölkerungswachstum und Urbanisierung der Auswanderungsdruck

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Weltweite Migration ist eines der größten Probleme der Gegenwart und der Zukunft. Bisher setzen europäische Staaten auf Grenzsicherung und Abschiebung. Kurzfristige Lösungen, die auf Dauer das Problem nur verschärfen. Ein radikales Umdenken ist nötig, was Immigration betrifft. Ein Gespräch mit dem schwedischen Soziologen Rickard Sandell (41), der als Spezialist für Demographie am Real Instituto Elcano in Madrid forscht. Ein international renommiertes „Think Tank“, das seit vier Jahren Studien, Analysen und Berichte zu aktuellen Themen erstellt.

Aufnahme einer Überwachungskamera in Melilla vom 28. August 2005, als 300 Migranten versuchten, den Sicherheitszaun zu überwinden

Nachdem im Herbst letzten Jahres Hunderte von Schwarzafrikanern die Grenze der spanischen Enklaven in Marokko, Ceuta und Melilla, stürmten, haben Sie das Problem der der Immigration aus Afrika aus demographischer Sicht untersucht. Ergibt sich daraus eine andere Perspektive auf das Einwanderungsproblem?

Rickard Sandell: In den Medien wurden die Vorgänge an der Grenze als isolierte Vorfälle betrachtet. Dabei war es nur eine Reaktion auf die Lebensbedingungen in den Ländern der Subsahara. Die Ausgangsfrage meiner Untersuchung war: Sind die Immigranten über den Grenzzaun gesprungen oder wurden sie hinüber gestoßen? Gerade die spanische Presse hat es wieder und wieder als einen freiwilligen Akt dargestellt. Tatsächlich hatten die Menschen aber keine andere Wahl, als zu emigrieren. Sie verstanden Migration als Lösung ihrer Probleme in den Heimatländern, obwohl der Grenzübertritt mit hohen persönlichen Risiken verbunden ist.

Basiert das auf den sozialen Daten, die sie über die Immigranten haben?

Rickard Sandell: Nein, ich habe keine Daten über die Immigranten selbst. Ich betrachte das aus einer Makroperspektive. Ich sehe drei Mechanismen, die Individuen beeinflussen zu emigrieren. Zum einen ist das eine steigende Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten in den Staaten der Subsahara. Es gibt immer mehr Menschen in den Städten. Jedes Jahr suchen mehr Menschen Arbeit, um sich und ihre Familie zu ernähren. Zum anderen wird der Unterschied zwischen der Ökonomie Spaniens und der der subsaharischen Länder immer größer. Die spanische Wirtschaft wächst wesentlich schneller und besser. Der Unterschied der Lebensbedingungen war schon immer riesig, aber zurzeit wird die Kluft von Jahr zu Jahr noch größer. Die Ökonomien der afrikanischen Staaten sind auch am Wachsen, aber Spanien wächst mit rapider Geschwindigkeit, selbst im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Der dritte Faktor ist die spanische Politik gegenüber Immigranten. Wer es nach Spanien schafft, kann nach einer Weile Papiere zu bekommen. Das ist im Vergleich zu anderen europäischen Länder etwas Besonderes. Alles zusammen macht Spanien zum Ziel von Immigranten. Nicht zu vergessen die geographische Lage. Von Marokko aus sind es nur 14 Kilometer vom afrikanischen Kontinent nach Europa.

Die Situation könnte sich schlagartig ändern, wenn Spanien alle Immigranten zurück nach Marokko deportiert. Angeblich warten die spanischen Behörden nur darauf, dass Marokko menschenwürdige Unterbringungen für Immigranten einrichtet.

Rickard Sandell: Das ist nur ein verkürzter Blickwinkel, als gäbe es nur ein Problem von Melilla und Ceuta. Aber aus globaler Sicht ist es ganz anders. Sehen Sie, das Hauptproblem eines Immigranten ist es, die Grenze zu überwinden. Ob nun über den Zaun von Ceuta, mit einem Boot über die Meerenge von Gibraltar oder auf normalem Weg wie mit Flugzeug oder Auto. In der Zukunft wird es mehr und mehr Versuche dort geben, wo die Grenze Schwachpunkte hat. Im Oktober letzten Jahres war es in Melilla und Ceuta. Die Regierung wird nun die Grenze verstärken, will sie unpassierbar machen. Derartige Maßnahmen vermindern aber nicht den Immigrationsdruck in den subsaharischen Staaten. Im Gegenteil, er wird noch stärker und die Menschen suchen sich andere Wege und Mittel. Das führt zu einer Zunahme von Menschenschmuggel, zu einer Stärkung illegaler Gruppen, die „Reisen nach Europa“ organisieren, mehr Menschen ertrinken im Meer, das als Schmuggelroute reaktiviert wird. Das wird so weiter gehen, solange die europäischen Regierungen nicht Möglichkeiten legaler Einwanderung schaffen. Nur so könnte man den Immigrationsdruck etwas vermindern.

Sie sprechen von den Staaten der Subsahara als wäre es ein einziges Land. Muss man keine Differenzierungen zwischen den Ländern machen?

Rickard Sandell: Da sind vielleicht kleine Unterschiede, aber es gibt einen allgemeinen demographischen Trend, der für alle verbindlich ist. Zum ersten Mal wächst die aktive Bevölkerung (zwischen 15 Jahren und 59 Jahren) dort in einem bisher noch nie gekannten Ausmaß. Das liegt an einer allgemein besseren medizinischen Versorgung, der Entwicklung von Aids von einer tödlichen zu einer mehr chronischen Krankheit oder auch an der Senkung der Säuglingssterblichkeitsrate. Das kann sich natürlich alles jeder Zeit schlagartig ändern, aber so wie es aussieht und auch die UN als mittelfristiges Szenario voraussagt, gibt es einen überproportionalen Wachstum der aktiven Bevölkerung. Das ist eine vollkommen neue Situation.

Hinzu kommt ein unvergleichlich hoher Grad an Urbanisierung, die einen zusätzlichen Druck auf den Arbeitsmarkt ausübt. Früher versorgten sich relativ viele Menschen auf dem Land selbst, ohne Einfluss auf die Arbeitsplätze der Metropolen zu nehmen. Es entwickelt sich ein neuer Typ von Ökonomie, was kein Problem wäre, wenn diese Länder ein angemessenes Wirtschaftswachstum hätten. Das Resultat sind soziale Krisen, die zu Unruhen und politischen Instabilität führen. Alles Faktoren, die Menschen bewegen, zu emigrieren. In Afrika gibt es kaum Möglichkeiten, also bleibt nur Europa.

Einwanderer bilden Netzwerke und ziehen weitere Migranten an

Aber die Zahl der Immigranten ist bisher verhältnismäßig noch gering.

Rickard Sandell: Bis jetzt vielleicht, aber in der Zukunft wird sich das signifikant ändern. Ich glaube, der Anstieg, gemessen an demographischen Zahlen, wird unglaublich hoch sein.

In Marokko sind es momentan vielleicht 5.000 Menschen aus Schwarzafrika, die nach Spanien übersetzen wollen.

Rickard Sandell: Wahrscheinlich sind es viel mehr. Wir wissen nicht genau, wie viele über die Grenze kommen. Es gibt nur begrenzte Möglichkeiten die lange Grenze zu Marokko und anderen Ländern zu überwachen.

In Tanger warten vielleicht 1.500 Immigranten, in den Camps in Wäldern sind es noch einmal 1.000. Das ist wirklich nicht viel.

Rickard Sandell: Das ist auch der Grund, warum Spanien bisher die Immigration aus den Staaten der Subsahara nicht als Problem betrachtete. Aber das wird sich ändern, immer mehr Menschen werden kommen. Man darf nicht vergessen, Migration hat zwei Enden. Man erhält weit mehr Immigranten, wenn bereits eine große Anzahl von Einwanderer aus einer Region im Zielland lebt. Wenn sich Spanien als Migrationsland für Menschen aus der Subsahara etabliert, wird es über persönliche Netzwerke direkte Verbindungen nach Afrika geben. Derartige Netzwerke sind bekanntermaßen sehr wichtig. Sie erhöhen die Chance signifikant, in ein Zielland zukommen. Und genau das passiert momentan. Langsam, aber stetig wächst in Spanien der Bestand an Immigranten aus Schwarzafrika. Kein rapider Anstieg, aber sie sind die in Spanien die am schnellsten wachsende Immigrantengruppe.

Wie sehen denn die demographischen Zahlen aus?

Rickard Sandell: 2005 gab es rund 140.000 Immigranten aus der Subsahara. Das ist ein Anstieg von 29% zum Vorjahr. Die Einwanderer aus Marokko, 420.000, sind im Vergleich nur um 20% angestiegen, was hauptsächlich am Netzwerkeffekt liegt, von dem wir gerade sprachen. Es gab Familienzusammenführungen und es wurde geheiratet. Eine große marokkanische Gemeinde wird immer dafür sorgen, dass es viele Immigranten aus Marokko geben wird. Der selbe Effekt beginnt nun bei den Menschen aus Schwarzafrika.

Es muss eine Lösung gefunden werden

Gemeinhin werden Immigranten, insbesondere aus Afrika, als die Ärmsten der Ärmsten beschrieben. Ist das nach Ihren Erkenntnissen zutreffend?

Rickard Sandell: Wenn man Immigration allgemein betrachtet, wird man immer feststellen, dass sie in der Regel nicht die Ärmsten der Ärmsten sind. Sie haben Schulen und Universitäten besucht, verfügen in irgendeiner Form immer über eine berufliche Ausbildung, und es gibt Familienersparnisse, die den schweren Schritt der Immigration erst ermöglichen. Das ist ein allgemeines Raster, das kennzeichnend für Immigration in Spanien und Europa ist. Eine gute Ausbildung ist eben die Voraussetzung für ein besseres Leben in einem anderen Land.

Die Armen der Armen können niemand bezahlen, der sie nach Marokko bringt, geschweige denn nach Spanien. Sie haben wahrscheinlich nicht einmal die Information, wohin man immigrieren könnte. Spanien oder andere Länder Europas haben sie noch nie im Fernsehen gesehen, da dieses Gerät ein unerreichbarer Luxus ist. Das mag sich mit der Zeit vielleicht verändern, aber für die gegenwärtige Situation ist es kennzeichnend.

Die Bevölkerung in Europa wird immer älter, die Sozialsysteme funktionieren nicht mehr. Könnte eine kontrollierte Einwanderung dieses Problem nicht lösen?

Rickard Sandell: Immigration ist keine Lösung für die Überalterung der europäischen Gesellschaften. Es müssten so viele Menschen einwandern, dass unsere Gesellschaft, wie wir sie kennen, nicht mehr existieren würde. Es würde weit mehr Immigranten geben als ursprüngliche Bevölkerung. Außerdem ist Europa sehr rassistisch. Im Gegensatz zu den USA, Kanada und Australien, die auf Immigration gegründet sind und in denen Rassismus ein offenes Thema ist, bleibt es in Europa ein Tabu. Für jeden Politiker in Europa käme es einem politischen Selbstmord gleich, würde er für eine immigrationsfreundliche Politik eintreten. Der Trend in Europa geht hin zu mehr Restriktionen.

Wäre es nicht billiger ein Quotensystem für Immigration einzurichten, wie es die USA und Kanada haben, statt die teure Grenzsicherung auszubauen?

Rickard Sandell: Ja, sicherlich. Aber kein europäisches Land hat den Mut dazu. Niemand will sagen: ich möchte die besten Universitätsabgänger, die besten Computerfachleute, die und die Altersgruppe etc. Das wird sich aber in den nächsten Jahren nicht vermeiden lassen. Die Probleme der Überalterung, die illegale Immigration verschwinden nicht einfach. Im Gegenteil, sie werden noch größer und in irgendeiner Form muss eine Lösung gefunden werden. Jedes Land in Europa betont, nicht rassistisch zu sein, de facto sind sie es aber, was die Immigration betrifft. Gerade bei Einwanderung muss man von ethnischen Gruppen sprechen. Erst kürzlich sah ich eine Studie aus Schweden über kriminelles Verhalten von Immigranten. Das sind wichtige Informationen über Probleme der Integration.

Gibt es Rechnungen, Schätzungen wie viele Immigranten man in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erwarten kann?

Rickard Sandell: Das kann man unmöglich prognostizieren. Die aktive Bevölkerung in den 14 Staaten der Subsahra, von denen ich Daten habe, umfasste 2005 118 Millionen Menschen. Im Jahr 2050 werden es 304 Millionen sein, eine Steigerung um 186 Millionen. Zwischen 1950 und 2005 war der Zuwachs nur 86 Millionen. Gerade Nigeria ist eine demographische Zeitbombe und wird in Zukunft eines der bevölkerungsreichsten Länder der Erde sein. Immigration hängt von so vielen Faktoren ab. Wie wird sich der Klimawechsel auswirken? Wie schnell wird sich die Sahara weiter ausbreiten? Dann gibt es noch Malaria und Aids.

Nach den Vorfällen in Ceuta und Melilla kündigte Spanien, aber auch die EU an, direkt in Afrika an der Schaffung von Arbeitsplätzen mitzuhelfen. Wie aussichtsreich ist das, gemessen an demographischen Zahlen?

Rickard Sandell: Es ist nicht das erste Mal, dass Politiker dies ankündigen. Ich bin da sehr skeptisch. Aber nehmen wir einmal an, die EU wäre mit ihren Maßnahmen in Afrika erfolgreich, so würde es selbst dann mindestens 50 Jahre dauern, bis wirklich entscheidende Unterschiede erkennbar würden. Es ist gar nicht nötig, diese Länder auf europäisches Niveau bringen. Es genügt schon, einen psychologischen Effekt zu erzeugen, der den Menschen das Gefühl gibt, irgendwann wird alles besser. So funktioniert das auch in den neuen Mitgliedstaaten der EU. Der bisher negative psychologische Effekt wird durch den Beitritt umgedreht. Statt Zukunftsangst haben die Menschen Hoffnung auf Prosperität. Und das nimmt den Druck zu emigrieren. Die EU muss ähnliches in Afrika erzeugen, sonst sind alle Hilfsmaßnahmen umsonst. Aber ich bin wenig optimistisch, die europäischen Staaten haben genug eigene Probleme. Und wer wird den Menschen erklären wollen, dass unser Schicksal auch von dem Afrikas abhängig ist?