Daimler eingebrochen

Ein Gericht in Kalifornien hat ein Verfahren gegen den Konzern wegen Verbrechen während der Militärdiktatur in Argentinien zugelassen

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Ende Mai entschied ein US Berufungsgericht in Kalifornien, dass die Gerichte in San Fransisco für die Klage der Angehörigen der in Argentinien verschwundenen Daimler-Gewerkschafter zuständig sind. Die Daimler AG muss nun sich auf einen Zivilprozess vorbereiten. Es geht um "crimes against humanity" - Verbrechen gegen die Menschheit, die nicht verjähren. Es geht um Beihilfe zum Mord an ihren Betriebsaktivisten in den Jahren 1976 und 77, als in Argentinien eine Militärdiktatur herrschte. Mit der Entscheidung wurde die schwierigste juristische Hürde genommen, nämlich die geografische Zuständigkeit - eine Ohrfeige für den Konzern.

Während der Diktatur waren in der argentinischen Niederlassung von Mercedes-Benz mindestens vierzehn Betriebsräte verschleppt und ermordet worden. Das Unternehmen hatte, der vereidigten Aussage ihres Justiziars zufolge, die Folterkammern der Generäle mit Brutkästen ausgestattet - und die Manager sollen sich Babies der ermordeten Regimegegnerinnen widerrechtlich angeeignet haben.

Strafrechtlich sind die Verantwortlichen für diese Verbrechen bis heute nicht zur Verantwortung gezogen worden. Der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck (damals Republikanischer Anwaltsverein, heute ECCHR erstattete Anzeige, aber die Staatsanwaltschaft in Nürnberg stellte das Verfahren ein, weil, so ihre Begründung, nicht nachgewiesen wurde, daß die verschwundenen Arbeiter nicht irgendwann wieder auftauchen würden.

Auch in Argentinien, wo seit 2003 die Amnestiegesetze aufgehoben wurden, kamen die Ermittlungen nicht voran. Die Staatsanwaltschaft von Buenos Aires gab das Verfahren an ein Provinzgericht ab - und dort schläft es seitdem sanft.

Die Hinterbliebenen hatten 2004 in den USA Klage gegen die DaimlerChrysler AG eingereicht. Sie stützen sich auf das Alien Tort Claims Act (ATCA), ein Gesetz aus dem Jahr 1789 - ein guter Jahrgang also. Das ATCA war damals gegen die Piraten erlassen worden, die in der Karibik ihr Unwesen trieben. Es erlaubte bei Gewaltverbrechen, die in internationalen Gewässern von Ausländern verübt worden waren, die US-Gerichte anzurufen - da die Tribunale der Bahamas oder der Cayman Islands, wo die Piraten beheimatet waren, kaum diese Delikte aburteilen würden. In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gruben Menschenrechtler diese Vorschrift wieder aus, um südamerikanische Folterer in den USA abzuurteilen. Im Subkontinent verhinderten Amnestiegesetze die Strafverfolgung.

Ich überredete die Opfer von Mercedes-Benz Argentina, den Schritt in die USA zu wagen - und das war damals alles andere als einfach. 2004 hatte in Buenos Aires gerade Präsident Néstor Kirchner die Amnestie-Gesetze annulliert und sich selbst vor der UNO zum "Sohn der Maiplatz-Mütter" erklärt. Und in den USA ließ George W. Bush die Folterkammern in Guantánamo und anderen Orten auf Hochtouren laufen. Gerade erst (2003) hatte der Supreme Court entschieden, daß nach dem ATCA nur noch Verfahren eröffnet werden sollten, für die es keinen anderen, besseren Gerichtsstand gäbe. So wollte Corporate America verhindern, für seine Untaten in der Dritten Welt zu Hause haftbar gemacht zu werden.

Daimler wiegte sich in Sicherheit, konnte sogar die Zustellung der US-Klage in Stuttgart verhindern, weil es das Oberlandesgericht Karlsruhe davon "überzeugen" konnte, daß das US-Verfahren die Sicherheit der Bundesrepublik gefährden würde.

Noch unter Bush verloren die Kläger die erste Instanz - die Hinterbliebenen sollten in Deutschland oder in Argentinien klagen, meinte der Richter. Dann gewann Barack Obama die Wahlen und die Stimmung kippte. Trotzdem urteilte im August 2009 der District Court in San Francisco gegen die Zuständigkeit, die deutsche Bundeskanzlerin soll zuvor ihrem Amtskollegen ihre Bedenken vorgetragen haben.

Von den drei Richtern schreib einer, Stephen Reinhardt, im Urteil seine abweichende Meinung fest. Ausländische Konzerne, die auf dem US-Markt hohe Profite einfahren, müssen sich auch der US-Gerichtsbarkeit stellen. So erziele die Daimler AG 45 Prozent ihres gesamten Gewinnes mit Verkäufen in den USA, alleine aus Kalifornien stammen 2,4 Prozent. Das Stuttgarter Unternehmen sei alleiniger Inhaber des Aktienkapitals von Mercedes-Benz-USA, und die Niederlassung müsse alle Werbekampagnen und die Besetzung von Chefposten absegnen lassen. Doch Reinhardt wurde überstimmt.

Der US-Opferanwalt Terry Collingworth beantragte zwar noch die Einberufung des Großen Senats ("en banc panel") zu diesem Fall, aber den Weg zum Obersten Gerichtshof wollte er nicht beschreiten, um einen negativen Präzedenzfall zu vermeiden. Damit schien der Rechtsweg in den USA ausgeschöpft.

"Wir stehen wieder vor der Wand", sagte damals Graciela Gigena, eine der Witwen, "gegen so viel Macht gibt es keine Gerechtigkeit". War es ein Fehler gewesen, die US-Justiz angerufen zu haben, fragte ich die Klägerinnen. Denn jedesmal schmerzt die Erinnerung an die Morde von damals. Nein, war die Antwort, der Versuch hatte sich gelohnt. Und von den feinfühlenden Worten des dissidenten US-Richters Reinhardt in der Urteilsbegründung waren die Klägerinnen sichtlich gerührt, Tränen sind geflossen. Dies schrieb ich Richter Reinhardt.

Was danach, hinter den Kulissen, passierte, geht aus den Akten nicht hervor. Aber Anfang letzten Jahres setzten sich die drei Richter noch einmal zusammen, annullierten ohne Begründung ihr eigenes Urteil und beschlossen, in Pasadena erneut über die Zuständigkeit verhandeln zu lassen. Die US-Anwälte rechneten nicht mit einem schnellen Urteil - vor allem, da Ende 2010 ein New Yorker Berufungsgericht in einem Verfahren gegen Shell (Nigeria) beschlossen hatte, daß das Alien Tort Claims Act nur noch gegen Individuen, aber nicht gegen Unternehmen anzuwenden sei. Menschenrechtsorganisationen kündigten daraufhin den Gang zum Supreme Court an, und niemand rechnete damit, daß vor einer höchstrichterlichen Entscheidung die kalifornischen Richter entscheiden würden. Das Gegenteil passierte. Nunmehr ist klar, daß sich die Daimler AG nicht mehr hinter technischen Zuständigkeitsfragen verstecken kann - "ein riesiger Erfolg für die Menschenrechtsbewegung", so der Generalsekretär des ECCHR, Kaleck.

Das Stuttgarter Unternehmen hat angekündigt, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen - damit kann es ein paar Monate gewinnen. Aber die Entscheidung ist getroffen, Daimlers standing in den USA, immerhin sein größter Absatzmarkt, scheint in Mitleidenschaft gezogen - nicht zuletzt, weil es an der Wall Street nicht mehr gelistet ist. Damit will es der US-Börsenaufsicht SEC den Blick in seine Bücher verwehren.

Der schwäbische Autobauer wird sich also für seine Beteiligung an den Morden in San Francisco verantworten müssen - in öffentlicher Verhandlung, mit Zeugen, Geschworenen und Journalisten.

Warum, fragen sich Beobachter, hat das Unternehmen zu keinem Zeitpunkt versucht, auf andere Weise Verantwortung für die Geschehnisse zu übernehmen? Ein Zivilprozess bedeutet mit Sicherheit einen erheblichen Imageschaden und birgt das Risiko einer astronomischen Geldstrafe. Seit 1999 recherchiere ich zu Mercedes-Benz Argentina, und Anwälte in drei Kontinenten bringen seitdem den Fall vor die Gerichte. Auch wenn die anzeigenabhängige Presse dazu vornehm schweigt, die Vorwürfe sind der interessierten Öffentlichkeit bekannt, wurden mehrfach auf den Aktionsversammlungen dargelegt. Ein britischer oder ein US-Konzern hätte in einer solchen Situation vermutlich einen externen Krisenberater hinzugezogen. Und der hätte geraten: Holt die Kuh vom Eis und entschuldigt Euch mit schönen Worten!

Doch Schrempp, Zetsche und die Aufsichtsräte rührten keinen Finger. Ihnen fiel nichts besseres ein, als nur auf Zeit zu spielen - unter dem Motto: soll es doch mein Nachfolger richten. Doch spätestens mit dem Urteil vom Mai ist das Eis gebrochen. Es wird ernst für die Daimler AG. Jetzt hat sie es nicht mehr mit einer Handvoll Menschenrechtsbewegter zu tun sondern mit der US-Justiz, und das kann sehr teuer werden.

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