Der andere Bolognaprozess

Die Internationalisierung der Hochschulproteste im Web 2.0

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Die aktuellen Proteste an den Hochschulen nutzen das Internet für neue Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit: ausgehend von den Wiener Hörsaal-Besetzungen im Oktober hat sich ein inzwischen weltumspannendes Netzwerk gebildet, das vor allem über die Kanäle des Web 2.0 kommuniziert.

Die Zersplitterung der Proteste auf zahlreiche Einzelstandorte hat eine Vielzahl von Online-Aktivitäten hervorgebracht, die einerseits als Anlaufstelle und Organisationszentrale für die Umsetzung vor Ort fungieren, durch die weltweite Sichtbarkeit der Web-Präsenzen gleichzeitig aber auch eine internationale Protestöffentlichkeit herstellen – überaus anschaulich visualisiert in der mittlerweile knapp 2 Millionen mal angeklickten Landkarte, die der Wiener Student Tom Schaffer (@schaffertom) angelegt hat. Seine Idee einer netzbasierten Kartografierung der Proteste hat inzwischen Schule gemacht und wird einerseits zur Markierung besetzter Hörsäle und Häuser an einzelnen Standorten genutzt oder zur Abbildung der Problemzonen in nationalen Bildungslandschaften.

Karten zu den Studentenprotesten auf Google Maps

Meist besteht die digitale Infrastruktur aus einer klassischen Protest-Homepage, die häufig als chronologisch geordnetes Weblog gestaltet ist und um eine ganze Reihe von Anwendungen aus dem so genannten „Web 2.0“ ergänzt wird. Profilseiten in Sozialen Netzen wie Facebook oder StudiVZ liefern Identifikationsangebote für lokale Nutzer und bieten externen Unterstützern Raum für Gruß- und Solidarbotschaften.

Die zentrale Wiener Facebook-Plattform fungiert inzwischen auch als wichtiges Portal zu spezialisierten Angeboten im Netz. Ein flankierend eingerichtetes Live-Portal fasst ausgewählte Elemente von Echtzeit-Inhalten wie Videostreams, Twitter-Botschaften oder Facebook-Nachrichten auf einer übersichtilch gestalteten Website zusammen. Diese Re-Integration der Online-Kommunikation ist insbesondere mit fortschreitender Protestdauer notwendig geworden – allein solche Seiten erlauben mittlerweile einen koordinierten Einstieg in die auf verschiedene Standorte und „Protestniveaus“ verteilten digitale Protestlandschaft. Denn aufgrund einer verflochtenen Hochschulpolitik ist aus den vielen Streik-Episoden ein veritabler Mehrebenen-Protest geworden: die lokale Bildungseinrichtung bietet eine greifbare Angriffsfläche, hinter der sich im „Bologna-Prozess“ zunächst die Ministerien auf Landes- und Bundesebene und schließlich ein nur abstrakt wahr genommener „europäischer Hochschulraum“ verbirgt.

Vernetzung durch Blogs, Twitter, Videos …

Für die digitale Verschaltung spielt neben den Sozialen Netwerken vor allem der Kurznachrichten-Service Twitter eine wichtige Rolle. Die maximal 140 Zeichen langen Botschaften verbreiten Live-Nachrichten aus dem laufenden Demonstrationsgeschehen ebenso wie Termine bevorstehender Vollversammlungen oder die Berichterstattung über die Proteste in den alten Medien. Damit die protestbezogenen Kurznachrichten im Twitter-Strom überhaupt gefunden werden können, haben sich verschiedene Codes herausgebildet – so genannte „Hashtags“ wie #unsereuni oder #unibrennt markieren eine Twitter-Nachricht als Bestandteil der digitalen Protestkommunikation. Schon in der Auswahl dieser Hashtags zeigen sich auch nationale Besonderheiten: Von Österreich ausgehend, haben sich #unibrennt und #unsereuni nachhaltig in den deutschen Twitter-Rankings eingenistet, etwas später kam der „harmlosere“ #bildungsstreik dazu. In den USA haben Hashtags einen aggressiveren Einschlag wie etwa #occupyca („Kalifornien besetzen“) oder der Twitter-Name @reclaimUC („UC zurückerobern“) verdeutlichen.

Neben den hoch verdichteten Twitter-Texten umfassen die Online-Proteste aber auch multimediale Angebote: Streaming-Plattformen wie UStream oder Qik erlauben ein direktes Senden von Videosignalen aus besetzten Hörsälen heraus und verschaffen den studentischen Diskussions- und Entscheidungsprozessen damit eine bislang ungekannte Öffentlichkeit. Trotz bisweilen eingeschränkter Übertragungsqualität sind bereits Konferenzschaltungen zwischen verschiedenen Standorten realisiert worden, etwa im Rahmen des International Plenum for Better Education Ende November in München.

Screenshot „Bildungsstreik Köln - Bolognaleichen Flashmob“

Videostreams können auch der Direktübertragung von Demonstrationen und Streik-Aktionen wie dem Bolognaleichen-Flashmob dienen. Bei dieser via Facebook und Twitter vorbereiteten Aktion waren Studierende in der Kölner Innenstadt unvermittelt zu Boden gesunken, um dort regungslos als Opfer der verfehlten Bildungspolitik zu verharren. Hinweise zu den zugehörigen Online-Videos kursierten schnell in den digitalen Nachrichtenzirkeln und verhalfen diesem „Happening 2.0“ zu internationaler Anerkennung.

Screenshot „koelnbrennt“

Nationale Besonderheiten

Neben den oft rohen und verwackelten Live-Bildern tragen aufwändiger verarbeitete Online-Videos zu einer anderen Form der Dokumentation und Archivierung bei: der elf Minuten lange Film The Taking of Wheeler Hall zeichnet das zentrale Protestereignis an der University of California in Berkeley mit den Mitteln des Dokumentarfilms nach – inklusive Bildmaterial aus dem besetzten Hörsaal, Interviews mit den Besetzern und Szenen von der gewaltsamen Räumung des Auditoriums durch die Campus-Polizei. Ähnliche Filme finden sich auch auch von Besetzungen in Europa, die Website unibrennt.tv bündelt protestbezogenes Videomaterial. Ihr Publikum erreichen die Clips dabei zunächst über Plattformen wie YouTube, eignen sich aber auch zur Übernahme und Verbreitung durch Fernsehsender. Auf diesem Weg erhalten die Protestakteure zusätzliche Medienaufmerksamkeit und Reichweite – eine Alternative zur klassischen Strategie, im Rahmen medienwirksam inszenierter Ereignisse auf Konfliktstoffe und Protestziele hinzuweisen.

Screenshot „Occupied Berkeley: The Taking Of Wheeler Hall“

Im digitalen Hochschulprotest gibt es demnach nationale Besonderheiten: während in Österreich mit den Mitteln des Web 2.0 sehr schnell eine leistungsfähige Infrastruktur errichtet wurde, verläuft die digitale Lernkurve in Deutschland weitaus flacher – allerdings erschwert dabei eine sehr unübersichtliche Hochschullandschaft die Koordination der Proteste erheblich. Die Bildungsproteste in den USA vermitteln abermals ein anderes Bild: selbst im hochvernetzten Kalifornien sind die Online-Proteste nur zögerlich gestartet und haben kaum große Reichweite erzielen können. Allerdings finden die Protestaktionen dort vor einer wesentlich weiter entwickelten Netzöffentlichkeit statt – die Dichte regionaler und lokaler Nachrichtenanbieter im Internet bildet die Online-Ereignisse weitaus präziser und kenntnisreicher ab als die noch sehr viel stärker in den traditionellen Massenmedien verwurzelte Öffentlichkeit in Europa. Darüber hinaus nutzen in den USA Universitätsangestellte und Dozenten das Internet als relevanten Kommunikationskanal, zum Beispiel über Bildungs-Weblogs – hierzulande spielt diese Form digitaler Wissenschaftskommunikation dagegen keine nennenswerte Rolle in der öffentliche Debatte.

Das Internet fungiert demnach als Vehikel einer transnationalen politischen Kommunikation. Die Hochschulproteste haben sich zunächst in einem lokalen und nationalen Umfeld entwickelt, die Kontaktmöglichkeiten in weltweit zugänglichen Sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter stellen den internationalen Austausch sicher. Daraus resultieren nicht nur grenzüberschreitende Lerneffekte für die Durchführung internet-gestützter Protestkommunikation, sondern auch die Verankerung der Debatte um die Zukunft der Bildung als dringendes Anliegen auf der politischen Agenda.