Bloß nicht abwimmeln lassen

Politische Gruppen boten am Neuköllner Jobcenter Rat und Begleitservice an

  • Katharina Zeiher
  • Lesedauer: 3 Min.
Eine Aktivistin befragt einen Erwerbslosen zu seinen Erfahrungen.
Eine Aktivistin befragt einen Erwerbslosen zu seinen Erfahrungen.

Jobcenter Neukölln, Sonnenallee, 10 Uhr. Die Schlange reicht schon fast bis an die Tür. Doch nicht alles ist normal heute. 30 Leute haben ein Zelt und Tische aufgebaut. Kritisch beäugt von Polizisten und Jobcenter-Mitarbeitern verteilen sie Flugblätter an die Wartenden. »Keiner muss allein zum Amt!« ist das Motto der gemeinsamen Aktion von Mayday-Bündnis und Aktions-AG der Krisendemo. »Dieses Jobcenter ist das größte in Deutschland und bekannt für entwürdigende Behandlung der Erwerbslosen«, sagt Aktivist Stefan. »Wir wollen den Leuten hier zeigen, dass man durch gegenseitige Unterstützung etwas ändern kann.«

Das Angebot solidarischer Beratung und Begleitung wird rege nachgefragt. Eine der ersten Ratsuchenden ist eine kleine rundliche Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Sie erzählt, dass das Jobcenter ihren Umzugsantrag seit Dezember nicht bearbeitet. Sie will ihren Mann, der im Wachkoma liegt, aus dem Pflegeheim nach Hause holen. Dies aber kann sie nur mit einer größeren Wohnung. Ihre jetzige Zweiraumwohnung, in der sie mit ihrem Sohn lebt, hat sie zum 30. April gekündigt. Was wird, wenn das Amt nicht vorher reagiert? Sie zuckt die Schultern. »Die erkennen nicht, wenn wer in Not ist«, meint sie und schaut zum Gebäude. Auch die finanzielle Unterstützung wurde ihr wegen »mangelnder Mitwirkung« für zwei Monate gestrichen. Sie hatte die Gewerbeabmeldung ihres Mannes, der vor seinem Schlaganfall selbstständiger Handwerker war, nicht eingereicht.

Das hat System, meint Rainer Wahls, Anmelder der Aktion. Starke Verzögerungen bei der Bearbeitung von Anträgen, Einschüchterung und unbegründete Sanktionen sind für viele Erwerbslose Alltag. »Oft kennen sich auch die Sachbearbeiter mit den gesetzlichen Grundlagen nicht aus«, sagt Wahls. An der »Meckerecke« halten Betroffene ihren Frust auf Papier fest. »Wenn der Sachbearbeiter etwas falsch versteht, wird die Leistung gekürzt«, steht hier. Und: »Sozialstaat, dass ich nicht lache!«

In der Schlange steht Emine Micik, eine junge Frau mit Kinderwagen. »Zwei Stunden Warten sind hier Standard«, erzählt sie. Sie ärgert sich, dass die Sachbearbeiter immer so unfreundlich sind. »Je netter man selbst ist, desto frecher werden die.« An diesem Punkt wirkt eine Begleitung Wunder, betont Wahls. Das bestätigen auch diejenigen, die heute mit Begleitschutz zum Termin gegangen sind. Ein junger Mann, der seit Wochen keine Umzugsgenehmigung bekommt, weil seine Akte angeblich verloren gegangen ist, freut sich: »So schnell habe ich noch nie ein Ergebnis gesehen!«

»Gerade in der Krise, wenn Erwerbslosigkeit steigt und Jobs immer prekärer werden, wird das Jobcenter wichtig als Ort politischer Selbstorganisation«, sagt Hannah Schuster vom Mayday-Bündnis. Ermutigend findet sie die Geschichte von Sascha von Hinrichs. Drei Mal wurde er beim Jobcenter vertröstet, beim vierten Mal weigerte er sich, zu gehen. Auch vom Wachschutz ließ er sich nicht hinauswerfen. Das Jobcenter rief schließlich die Polizei. Die Beamten aber fanden seine Hartnäckigkeit verständlich und begleiteten ihn bis zum Bereichsleiter. Auf einmal ging alles ganz schnell. Sein Rat an alle, die mit dem Jobcenter zu tun haben: »Nicht abwimmeln lassen!«


Die vielen Gesichter der Ausbeutung

»Ich krieg die Krise« ist das Motto des diesjährigen Mayday-Umzugs. Auf einer bunten Parade will der Mayday am 1. Mai die vielen Gesichter prekären Lebens und Arbeitens auf die Straße tragen. Los geht es mit einem Konzert um 13.30 Uhr Unter den Linden / Höhe Bebelplatz.

Der Mayday will Organisierungsprozesse anstoßen, vernetzen und weiter entwickeln – auch über den 1. Mai hinaus. Dafür engagieren sich im Bündnis linke Gruppen, Flüchtlingsorganisationen und das Sozialforum.

http://maydayberlin.blogsport.de/

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