Ist TINA tot?

Wolf Wetzel 10.03.2009 17:29 Themen: Blogwire G8 Globalisierung Soziale Kämpfe Weltweit
Am 28.3.2009 wird es zwei Großdemonstrationen in Berlin und Frankfurt geben, die unter dem gemeinsamen Motto stehen werden ›Wir bezahlen nicht für eure Krise‹.
Manche halten die Parole zwar für symphatisch, aber längst überholt – andere sehen in diesen Großmobilisierungen vielmehr eine Chance, aus dem weitverbreitenden Zustand der Betäubung und Paralyse auszubrechen – gedanklich und mit Bewegung…
Ist TINA (There Is No Alternative) tot?
und
Wo bleibt TATA (There Are Thousands of Alternatives) ?





Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblockes Ende der 80er Jahre triumphierten die Vertreter und Ideologen des Kapitalismus und wähnten sich am Ende der Geschichte: Großspurig und drohend zugleich erklärten sie, zum Kapitalismus gäbe es keine Alternative: There is no alternative!
Fortan ging nicht mehr das Gespenst des Kommunismus um die Welt, sondern TINA. War es Gier, die sie 2008 stolpern ließ? Wer und was hat TINA zu Fall gebracht? Wird sie wieder aufstehen? Wird sie jemand daran hindern?
›Die Pleite des Kapitalismus‹
Für gewöhnlich hört man einen solchen Satz nicht von jenen, die den Kapitalismus seit Jahr und Tag für ›alternativlos‹, im schlimmsten Fall für verbesserungswürdig halten. In einer schweren Krise wie dieser schon.
Mit diesem fett gedruckten Schuldeingeständnis startete die Frankfurter Rundschau ihre Titelseite vom 9. Oktober 2008 – gefolgt von einem Satz aus dem ›Kommunistischen Manifest‹ von Karl Marx/Friedrich Engels, den man unter normalen Umständen aller höchstens im Feuilleton lesen darf:

»Die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor.«

Es muss etwas Gewaltiges, Erschütterndes passiert sein … Scheinbar und plötzlich steht alles auf dem Prüfstand: der ›Marktradikalismus‹, die Ideologie des sogenannten Neoliberalismus, die Mär von den ›Selbstheilungskräften des Marktes‹ …
Hegemonialmacht USA
Es herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass das Epizentrum dieser ›Finanzkrise‹ in den USA liegt. Das hat nicht nur etwas mit der (Schaden-)Freude der Mitkonkurrenten (in den EU-Staaten) zu tun, sondern vor allem mit den globalen Machtfaktoren. Mittlerweile sind die Stimmen fast vollständig verstummt, die behaupteten, dass hier alles ganz anders, Deutschland also nicht betroffen sei und jene, die ihren Traum von der polyzentristischen Welt für die Wirklichkeit hielten. In Wirklichkeit ist die ökonomische und politische Macht der USA nach wie vor so groß, dass fast alle Staatsökonomien davon betroffen sind – direkt oder indirekt.
Wie eng Finanz- und Industriekapital tatsächlich zusammenhängen, wird gerade jetzt peu a peu als Erkenntnis durchgereicht: Man rechnet als zweite Welle mit der größten Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA und Europa.
Die politischen Konsequenzen aus der Finanzkrise?
Weltweit werden Billionen von Euro bzw. Dollar an Staatsgeldern dafür aufgewendet, das Bankensystem zu retten bzw. durch ›Konjunkturprogramme‹ die Einbrüche in den Produktionssektoren abzufedern, um so die Wertschöpfungskette entlang der reißenden Glieder zu bandagieren. Was als Keynesianismus, also staatliche, antizyklische Steuerungen des Wirtschaftslebens verschrien war, kehrt nun händeringend zurück: Der Staat als Arzt am Krankenbett des Kapitalismus.
Wie liebevoll und patientenorientiert dabei der deutsche Staat agiert, kann man die letzten Monate beobachten: Über 1.000.000.000.000 Euro an Steuergeldern wurden bislang bereitgestellt, um die (drohenden) Verluste zu sozialisieren. Wenn arme Menschen ihr Recht auf Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe in Anspruch nehmen, dann thront über allem der harmlos klingende Spruch: ›Fördern und Fordern‹. Im wirklichen Leben dieser Menschen hat dies bei fehlender ›Mitwirkungspflicht‹ Kürzungen des kargen Unterhalts von bis zu 80 Prozent zur Folge!
Geradezu lächerlich ist die ›Mitwirkungspflicht‹ derer, die diese Staatsgeschenke in Anspruch nehmen: Bis heute müssen Banken weder ihre Bilanzen offenlegen, noch ihr Vermögen aufbrauchen, bevor sie überhaupt Anspruch auf staatliche Transferleistungen haben. Während Sozialhilfe erst gewährt wird, wenn alle Konten und Vermögensverhältnisse der zurückliegenden zehn Jahre offengelegt worden sind, reicht für den Erhalt von Milliarden-Hilfen der Blick in die letzte Quartalsbilanz. Einen größeren Komplizenstatus des Staates bei Gewährung von Bürgschaften und Krediten und Teilverstaatlichungen ist kaum möglich: Man gibt vor, das Feuer im Hochofen zu löschen - mit verbundenen Augen und Öl.
Eine Krise des Kapitals oder
Der Kapitalismus in der Krise?
Selbstverständlich werden Politiker und Wirtschaftsbosse nicht müde zu betonen, dass nicht das kapitalistische System der Fehler sei, sondern Übertreibungen und Auswüchse, die man nur korrigieren müsse. Geradezu esoterisch beschwören sie die Krise als Chance zur Erneuerung, um gestärkt daraus hervorzugehen. Bisher geht diese Rechnung auf. Bleibt es bei diesem Fahrplan, wird es zu keiner Krise des Kapitalismus kommen, sondern zu einer längst überfälligen Korrektur innerhalb des Weltkapitalismus – zugunsten europäischer Staaten, die nun institutionell das festschreiben wollen, was ihnen an ökonomischer und politischer Macht längst zugefallen ist.
Wo ist TATA? Wo steht sie?
Susan George, Politikwissenschaftlerin und bis 2006 Vizepräsidenten von ATTAC-Frankreich, hatte genug von der gehörlosen Babydoll-Puppe TINA und stellte ihre Gegenspielerin TATA vor: There Are Thousands of Alternatives.
Tausende von Gegenvorschläge und Forderungen wurden seitdem zusammengetragen. Zumindest die Vorstellungen aus dem globalisierungskritischen ATTAC-Netzwerk hatten gelegentlich und am Rande in der bürgerlichen Öffentlichkeit Gehör gefunden. Noch bevor man die Finanzkrise offiziell einräumte, hatte ATTAC im Juni 2008 ein »Statement zur Finanzkrise und zu demokratischen Alternativen« verfasst. Die Forderungen und Vorschläge sind nicht neu: Besteuerung aller Arten von Finanztransaktionen, progressive Besteuerung von Kapitaleinkommen, Resozialisierung von privatisierten öffentlichen Gütern (Energie, Gesundheit, Bildung), Verschärfung der Eigenkapitalvorschriften für Banken, Regulation von Derivaten, Stärkung nationalstaatlicher und internationaler Institutionen.
Einige dieser Forderungen haben Eingang in die »Empfehlungen« der Beratergruppe gefunden, die der Bundesregierung aus der Finanzkrise helfen sollen. Schließlich zielen all diese Maßnahmen nicht auf die Abschaffung, sondern auf die Stabilisierung und Optimierung des kapitalistischen Systems ab.
Von ganz unten kommen die Forderungen nach Abschaffung des Leiharbeiterstatus und prekärer Arbeitsverhältnisse, der Ein-Euro Jobs, der Hartz-IV-Gesetze bis hin zur Agenda 2010, begleitet von den Forderungen nach Mindestlohn und einem bedingungslosen Grundeinkommen. Ganz zweifellos würde die Verwirklichung dieser Forderungen das Leben von Millionen von Menschen erträglicher machen. Einige dieser Forderungen finden in den Reihen der parlamentarischen Opposition Gehör, doch der Druck auf die Große Koalition ist weder parlamentarisch noch außerparlamentarisch groß genug, um diese zu zwingen, dem nachzugeben.
Zwischen einem ›guten‹ Kapitalismus und dessen Überwindung
Einige der ›Attac‹-Forderungen stehen mittlerweile auf der Regierungsagenda. Sicherlich nicht, weil der Druck von unten so stark war und die Forderungen das System sprengen würden. Im Gegenteil: Sie stellen eine notwendige Balance zwischen Finanz- und Produktionssektoren her, um jene »unterirdischen Gewalten« wieder zu bändigen, die dem kapitalistischen System innewohnen. Das Ziel all dieser ›Zügelungen‹ ist ein Einfaches: Die Renditeerwartungen und –möglichkeiten zwischen Finanz- und Produktionskapital sollen wieder angeglichen werden! Das Ergebnis für eine antikapitalistische Linke wäre dann ein Makabres: Es würde sich fortan wieder lohnen, in Menschen statt in Erwartungen zu ›investieren‹. Im Zentrum des Kapitalinteresses stände fortan wieder die Ausbeutung des Menschen, mit Renditeerwartungen, für die man sich gegenüber der Konkurrenz nicht länger schämen müsste!
»Wir bezahlen nicht für eure Krise«
Das ist leichter gesagt als getan. Die Bundesregierung ist mit einer Billion Euro in Vorkasse getreten. Da diejenigen, die diese Krise verursacht haben weder persönlich noch unternehmerisch dafür haften, werden andere bezahlen müssen.
Noch sind die gigantischen Folgen der Krise bei den Lohnabhängigen nicht angekommen. Man könnte fast das Gegenteil vermuten: Die Verlängerung der staatlich finanzierten Kurzarbeit auf 18 Monate erleben viele als Erholung vom ruinösen Arbeitsalltag. Die Abwrackprämie von 2.500 Euro ist vielen ein Geschenk des Himmels, ihr altes Auto loszuwerden. Und so manche Schule, so mancher heruntergekommene Kindergarten wird nun (vorzeitig) renoviert …
Das Anfang 2009 beschlossene Konjunkturprogramm kann getrost unter das Betäubungsgesetz fallen: Tranquilizer für Lohnabhängige, die um ihren Job fürchten, Psychodelikas für den Mittelstand beim Kauf eines neuen Autos – ein Verschleierungsprogramm, das geradezu saubillig ist und als gelungenes Unterhaltungsprogramm auf der ›Titanic‹ für Ablenkung und Betäubung sorgt.

Alles spricht dafür, dass nach der Bundestagswahl 2009 spürbar damit begonnen wird, die Hunderte von Milliarden Euro Staatsschulden durch weitere ›Einsparungen‹ auszugleichen, die über eine Billion Euro bei denen einzutreiben, die sich nicht wehren können und wollen. Es wäre sicherlich ein großes aber machbares Ziel, die Sozialisierung dieser Milliarden-Schulden zu verhindern.
Dazu müsste man den Mut haben, aus der Autonomie der Vielfalt (die oft nur Vereinzelung bedeutet) auszubrechen, um gemeinsam einen Prozess zu wagen, der den Widerspruch zwischen Verbesserungen im System und Ziele, die darüber hinausweisen nicht leugnet, sondern zugunsten Letzterer in Bewegung bringt.

Wolf Wetzel

Der vollständige Text findet sich unter: www.wolfwetzel.wordpress.com
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Ergänzungen

Mobi-Video

...zur Demo 11.03.2009 - 10:20
...am 28.3. hier:

 http://www.youtube.com/watch?v=NKmuaFi3eOY

macht noch mal ein anderes :-)

Kritik an der affirmativen Kapitalismuskritik

radiohörer 11.03.2009 - 13:23
Die Finanzkrise verwandelt sich in eine globale Wirtschaftskrise, trotz Staatsinterventionen in bislang ungekanntem Ausmaß. Während selbst EU-Staaten wie Ungarn der Bankrott droht, will Deutschland, wie Angela Merkel erklärt, gestärkt aus der Krise hervorgehen. Zugleich droht eine Querfront aus regressiven Antikapitalisten. Was bedeutet das für eine emanzipatorische Kritik?
Eine Frage, Radio Corax weiterleitet an Thomas Ebermann. Ebermann war einst Fraktionssprecher der Grünen im Bundestag und ist heute ist als Publizist tätig.

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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manchmal isses einfach einfacher — levantino honesto

super, wäre sofort dabei! — fangen wir endlich an, schluß zu machen?

guter Artikel — Peter H.