Die Mutter aller Krisen

Gespräch mit dem Krisentheoretiker Robert Kurz. Teil 1

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Robert Kurz gilt seit seinem Standardwerk Der Kollaps der Modernisierung" als einer der profiliertesten Kritiker des derzeitigen Wirtschaftssystems. Anders als viele andere Ökonomen beschäftigte er sich in seinen Analysen nicht mit einem erwünschten Soll-Zustand, sondern mit etwas, das Medien, Politiker und Ökonomen nicht ständig, dafür aber in periodischen Abständen umso stärker beschäftigt: Der Krise.

Herr Kurz, Sie wurden bereits 2002 nach dem Zusammenbruch der New Economy für Telepolis interviewt. Was hat sich seitdem verändert?

Robert Kurz: Damals platzte die spezielle Finanzblase des astronomisch überbewerteten Dotcom-Sektors. Der damit verbundene Börsenplatz des „Neuen Markts“ wurde liquidiert, und das führte zu einem allgemeinen Aktiencrash. Weil sich aufgrund dieses Aderlasses das Recycling von Finanzblasen-Geld in die so genannte Realwirtschaft (Investitionen, Bau, Konsum) entsprechend verminderte, gab es eine kurze Rezessions- bzw. Stagnationsphase der Weltkonjunktur. Aufgefangen wurde diese Teilkrise durch einen Zinssenkungs-Wettlauf der Notenbanken, vor allem durch die Dollarschwemme unter der Ägide von Alan Greenspan.

Auf diese Weise entstand eine neue, noch viel größere Finanzblase, nämlich die berühmte Immobilienblase in den USA und in Teilen Europas sowie Asiens. Weil die Preise für Immobilien aller Art extrem stiegen, konnten die Häuser und Wohnungen mit Hypothekenkrediten beliehen werden, die in weit größerem Umfang als die vorherigen Finanzblasen Konsum und Investitionen befeuerten. Davon wurde eine globale Defizitkonjunktur genährt, die den pazifischen Defizitkreislauf einseitiger asiatischer Exporte (als Teil transnationaler Konzernstrategien) in die USA stark erweiterte und auf der das chinesische und das indische „Wachstumswunder“ wesentlich beruht.

Seit 2005 wurde davon auch die europäische Exportkonjunktur mitgenommen, nicht zuletzt der deutsche Maschinenbau. Die Aktien-Indizes stiegen weltweit fast wieder auf die alten Höchststände. Für ein positivistisches Denken, das immer nur zusammenhanglose „Tatsachen“ hochrechnet, schien sich schon eine neue Ära der Prosperität zu eröffnen bis weit ins 21. Jahrhundert hinein. Jetzt ist im Unterschied zu 2002 nicht bloß eine spezielle Blase geplatzt. Die Hypothekenkrise hat sich auf das gesamte Banken- und Kreditsystem ausgeweitet und die weitere Umschuldung des in Jahrzehnten aufgehäuften globalen Schuldengebirges grundsätzlich in Frage gestellt. Das ist viel dramatischer als der damalige Zusammenbruch des New-Economy-Segments. Deshalb werden auch die Rückwirkungen auf die Weltkonjunktur entsprechend drastischer ausfallen und der Absturz der Aktienkurse wird sich nicht mehr so leicht in eine neue lange Aufwärtsbewegung umkehren lassen.

Vielfach wird der Vorwurf erhoben, einzelne böse Manager mit ihrer Habgier und sonstigen Charakterfehlern hätten die weltweite Krise am Finanzmarkt verschuldet. Andere meinen, die Krise hätte strukturelle Ursachen, die mit der steigenden Schwierigkeit der Verwertung des Kapitals zusammenhängen. Können Sie Ihre Ansicht über die gegenwärtige Finanzkrise erklären?

Robert Kurz: Die Suche nach subjektiv Schuldigen ist die bevorzugte Art und Weise kapitalistischer Vernunft, auf objektive Krisen zu reagieren, weil das Selbstzweck-System der „Verwertung des Werts“ und die davon bestimmten Daseinsbedingungen die historische Grundlage dieser Vernunft bilden und für sie als „naturgegeben“ erscheinen. Die Widersprüche werden auf die individuelle „Ethik“ abgeschoben. Daran knüpfen sich ideologische Traditionen, etwa der Antiamerikanismus und der Antisemitismus.

"Es geht um die Verwertungslogik selbst"

Die Krise wird dabei auf angebliche negative Eigenschaften von „Kulturen“ oder Kollektivsubjekten zurückgeführt. Aber auch diejenigen, die von „strukturellen Ursachen“ reden, sind davon oft nicht unberührt. Denn mit „Struktur“ oder „System“ ist in der Regel nicht der Kapitalismus als solcher gemeint, sondern nur ein bestimmtes „Modell“, eine bestimmte Moderations- oder Regulationsweise des blind vorausgesetzten kapitalistischen Formzusammenhangs. Deshalb wird gegenwärtig etwa ein „angelsächsisches Modell“ für die Krise verantwortlich gemacht. Aber es geht hier nicht um ein „Modell“, das auf denselben Grundlagen durch ein anderes ersetzt werden könnte, sondern um die Verwertungslogik selbst, egal unter welcher Regulationsweise oder „Wirtschaftspolitik“.

Laut Marx ist die „Substanz“ von Wert und Verwertung (Mehrwert) die Verausgabung abstrakter menschlicher Energie in dieser gesellschaftlichen Form. Arbeitskraft kann aber nur auf der jeweiligen Höhe des von der Konkurrenz gesetzten Produktivitätsstandards angewendet werden. Darin liegt ein systemischer Selbstwiderspruch, der auf wachsender historischer Stufenleiter in Erscheinung tritt. Je höher die Produktivkraft durch Verwissenschaftlichung, desto geringer die Wertsubstanz der einzelnen Ware und desto größer die Vorauskosten der Produktion. Die Bewegung dieses Widerspruchs führt dazu, dass die Märkte unaufhörlich wachsen müssen und die Verwertung immer stärker vom Kredit als Vorgriff auf zukünftigen Mehrwert abhängig wird.

In der 3. industriellen Revolution der Mikroelektronik kulminiert dieser Widerspruch. Wachstum geht nur noch durch wachsende Verschuldung auf allen Ebenen, also durch einen immer größeren Vorgriff auf zukünftigen Mehrwert, der real nicht mehr eingelöst werden kann, weil die Produktivitätssteigerung die Wertsubstanz aushöhlt. Bereits in den 80er Jahren begann sich der „Finanzüberbau“ von der realen Mehrwertproduktion zu entkoppeln. Globale Massenarbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Prekarisierung einerseits und die Expansion von „fiktivem Kapital“ andererseits bildeten die Kehrseite derselben Medaille.

Seit den 90er Jahren begann der Prozess eines Recyclings von Finanzblasen-Kapital in die Realökonomie. Produktion und Konsum wurden immer weniger von realen Profiten und Löhnen getragen, sondern zunehmend von Einkommen aus fiktiven Wertsteigerungen auf der Zirkulationsebene (Kaufen und Verkaufen von Finanztiteln). Das erzeugte die optische Täuschung von konjunkturellen Aufschwüngen, die jedes Mal mit der Aufblähung von Finanzblasen einhergingen. Die gesellschaftliche Spaltung in scheinbar grenzenlos wachsenden „abstrakten Reichtum“ und prekarisierte Massenarmut fand vor diesem Hintergrund statt. Die dichte Kette von Finanzkrisen seit Ende der 80er Jahre war ein Hinweis auf den kapitalistisch unproduktiven Charakter dieser Entwicklung.

"Akt der Verzweiflung"

Mit der jetzigen neuen Qualität der Finanzkrise wird auch in dieser Hinsicht ein Kulminationspunkt erreicht. Die sich vollziehende „Kernschmelze“ des Kreditsystems erschwert das Aufblähen von neuen Finanzblasen oder macht sie ganz unmöglich. Die neue Geldschwemme der Notenbanken füttert nicht mehr indirekt die Konjunktur, sondern verwaltet nur noch die Konkursmasse der Finanzblasen-Ökonomie.

Das Platzen der Immobilienblase war eine Krise, die bereits lange Zeit von einigen Wirtschaftswissenschaftlern vorausgesehen wurde. Nachdem die Politik über Jahre Bedenken gegen spekulative Geschäfte ignoriert hat, gibt sie sich nun überrascht,. Ist das Naivität oder steckt hier Strategie dahinter?

Robert Kurz: Jene jetzt herumgereichten Ökonomen der „Kassandra-Fraktion“ haben zwar auf die Krisenpotenz der Immobilienblase aufmerksam gemacht, aber darin nur eine oberflächliche „Fehlentwicklung“ oder einen „Auswuchs“ gesehen, ohne den inneren Zusammenhang mit der schwindenden Basis der realen Verwertung und der Defizitkonjunktur zu erkennen. Deshalb gehen sie auch davon aus, dass das Platzen dieser Blase nur zu einer vorübergehenden Delle in der Weltkonjunktur führen wird und es danach munter auf ein Neues gehen kann. Die politische Klasse war in den letzten Jahrzehnten weltweit und parteiübergreifend mit fliegenden Fahnen zum Neoliberalismus und dessen Deregulierungs-Postulat übergegangen, gerade weil dadurch die schon damals sichtbar werdenden Schranken der Kapitalverwertung scheinbar überlistet werden konnten.

Die aktuelle Kehrtwende mit ihren bizarren Zügen einer wundersamen Wandlung von Hardcore-Neoliberalen zu Staatskapitalisten ist eher als Akt der Verzweiflung zu werten. Wie schon die neoliberale Wende eine blinde Flucht nach vorn war, so ist es diese Umkehrung erst recht. Das hat weder mit Naivität noch mit einer großen Strategie zu tun, sondern mit der strukturellen Ausweglosigkeit der kapitalistischen Institutionen, die dennoch für die ökonomischen und politischen Eliten als einzig mögliche Form von Gesellschaftlichkeit erscheinen.

Peer Steinbrück hat einen so genannten 8-Punkte-Plan zur Beseitigung des Bank-Unheils vorgelegt. Was halten Sie von seinen Vorschlägen?

Robert Kurz: Dieser optimistisch so genannte Plan ist ein hilfloses Quatschprogramm und sowieso schon nach wenigen Tagen Makulatur. Er enthielt nur ebenso banale wie wohlfeile Forderungen nach „mehr Transparenz“ der Bankgeschäfte, völlig unbestimmte Überlegungen zur Re-Regulierung und das populistische Anwamsen an den Volkszorn gegen „zu hohe Managergehälter“ als bloßes Ablenkungsmanöver.

Was bei Steinbrück nur verschämt angedeutet wird, scheint jetzt aber beim G-7-Gipfel an Klarheit zu gewinnen: nämlich die allgemeine Staatsgarantie, die weitgehende Verstaatlichung der Banken und der Übergang zur „kreativen Buchführung“ (Änderung der Bilanzierungsregeln). Das ist dieselbe Masche wie bei den „kreativen“ Änderungen der Arbeitslosenstatistik und der Inflationserhebung. Damit wird aber nichts bewältigt, sondern das Problem nur auf die Staatsebene gehoben. Die Masse der faulen Kredite lässt sich aber nicht so leicht kaschieren wie die Sozialstatistik.

Nachdem der Staat beim Existenzminimum für Hartz-IV-Empfänger knausert, hat er nun zum Erhalt von Banken auf einmal Milliardensummen übrig. Woher kommt das?

Robert Kurz: Er hat diese Summen gar nicht übrig. Nur ist er eben nicht bereit, für die Existenz von „überflüssigen“ Menschen zu nach kapitalistischen Kriterien abenteuerlichen Finanzierungsmethoden zu greifen, für den Erhalt des Finanzsystems dagegen schon. Die nicht vorhandenen Summen (Billionen, nicht Milliarden) müssen, das ist die eine Möglichkeit, auf den globalen Finanzmärkten durch zusätzliche Anleihen beschafft werden, was aber unter den neuen Bedingungen schwierig werden dürfte.

"Galoppierende Inflationierung"

Der Staat müsste hohe Zinsen zahlen, was das allgemeine Zinsniveau nach oben treibt und die Zinssenkungspolitik der Notenbanken konterkariert, oder er müsste die Steuern drastisch erhöhen. Beides würde der ohnehin abstürzenden Konjunktur vollends den Garaus machen. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass die Notenbanken dem Staat einfach aus dem Nichts geschöpftes Geld ohne als Sicherheit hinterlegten Gegenwert direkt überweisen; womöglich auch den strauchelnden Konzernen, um die Weltwirtschaftskrise hinauszuzögern. Das hieße also, die institutionellen Schranken der Geldschöpfung zu liquidieren und direkt zur Notenpresse zu greifen wie in der Kriegswirtschaft des 1. Weltkriegs. Das bedeutet nichts anderes, als dasselbe Mittel, das jetzt als Ursache der Finanzkrise beklagt wird, umso hemmungsloser und in einer neuen Dimension anzuwenden.

Das Resultat wäre die galoppierende Inflationierung, die sich jetzt schon leise andeutet. Wenn ein Kaffee sagen wir 30 Euro kostet, führt sich ein so induziertes Wachstum ad absurdum, während gleichzeitig sämtliche Spargelder wertlos werden. Die momentan als „vertrauensbildende Maßnahme“ verkaufte Staatsgarantie könnte schnell ins Gegenteil umschlagen, wenn die Modalitäten der Finanzierungsfrage konkret werden. Ironischerweise wendet sich so der bisherige Finanzierbarkeitsterror der antisozialen Krisenverwaltung gegen das kapitalistische System selbst.

Morgen in Teil 2 des Interviews mit Robert Kurz: Sozialisierung der Verluste, Lafontaine und Attac