Die Toten, die niemand sehen will

Die im Juni 2007 gegründete Organisation Borderline Europe lenkt den Blick auf die Flüchtlingsproblematik an den europäischen Grenzen

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Allein im Jahr 2006 sind nach verschiedenen Schätzungen mehrere tausend Menschen bei dem Versuch, nach Europa einzuwandern, gestorben. Oftmals sind es Tote ohne Namen, deren Leichen nie geborgen werden. Für viele Flüchtlinge aus Ländern der Dritten Welt wird Europa zur unerklimmbaren Festung. Diese Problematik, die seit den späten achtziger Jahren zunehmend dramatischer wird, scheint für Politik und Medien allenfalls eine Nebenrolle zu spielen. Nicht zuletzt deshalb gründete Elias Bierdel, der seit November 2006 nach der von ihm koordinierten dramatischen Rettungsaktion der Cap Anamur in Italien vor Gericht steht, nun die Organisation Borderline Europe, die auf das Massensterben vor den europäischen Küsten aufmerksam machen will.

Elias Bierdel, der als Cap-Anamur-Vorsitzender das Erbe von Rupert Neudeck angetreten war, wurde nach den Ereignissen im Jahr 2004 abgelöst – die Organisation war sprichwörtlich ins Schwimmen geraten und versuchte, ihr Image zu retten, das in Medien und Politik unter Dauerfeuer geraten war. Bierdel selbst, der unlängst zu einer mehrwöchigen Recherchereise zur Lage an den europäischen Außengrenzen aufgebrochen ist, muss sich zusammen mit Stefan Schmidt (Kapitän) und Offizier Vladimir Daschkewitsch in Sizilien wegen des Vorwurfs der Schlepperei verantworten.

Den Vorwurf an sich bezeichnete Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul als „blanken Unsinn“. Das ist verständlich, beinhaltet doch der Tatbestand der Schlepperei, dass der Schlepper sich persönlich bereichert haben muss, was im Fall von Bierdel und seinen beiden Mitangeklagten zweifelsfrei nicht zutrifft. Zur Erinnerung: Es ging um 37 afrikanische Flüchtlinge, die von der Cap Anamur aufgenommen worden waren und so vor dem sicheren Tod gerettet wurden. Eine humanitäre Hilfsaktion. Die italienischen Behörden verweigertem dem Schiff tagelang die Einfahrt in den Hafen von Port Empedocle, gaben erst nach, als Bierdel und sein Kapitän Stefan Schmidt die Lage an Bord zum Notfall erklärten.

Trotz großer Medienaufmerksamkeit vor allem in Italien, trotz des Engagements zahlreicher Gruppen, darunter der Rete Antirazzista und weiteren, sowie ehrenamtlichen Anwälten, kamen die Afrikaner unmittelbar nach der Anlandung in ein Abschiebelager. Die Arbeit der Menschenrechtsgruppen wurde von den Behörden massiv be- und schließlich verhindert, Bierdel und seine Crew inhaftiert, allerdings nach internationalen Protesten schnell wieder frei gelassen. Die italienische und deutsche Regierung – allen voran der damalige Innenminister Otto Schily – zeigten sich von ihrer unangenehmsten Seite und ließen deutlich werden, dass Menschenrechte und Menschenwürde allenfalls dann interessant sind, wenn man (politisches) Kapital aus ihnen schlagen kann (Humanitäre Heuchelei).

Zwei Jahre später veröffentlichte Bierdel mit Ende einer Rettungsfahrt ein Buch, in dem er minutiös die Vorgänge des Sommers 2004 dokumentiert. Einerseits mag es der Versuch sein, die eigene Position zu kräftigen, die eigene Unschuld gegenüber den Justizvorwürfen zu beweisen, andererseits wird hier wie auch in anderen Publikationen Bierdels deutlich, was den Mann antreibt: Ein intensives Gerechtigkeitsempfinden und eine tiefe Empörung gegenüber dem, was tagtäglich an den Grenzen der „Wohlstandsfestung Europa“ geschieht. Vor allem aber will er aufmerksam machen, ein öffentliches Bewusstsein schaffen für Dinge, die viele lieber gar nicht wissen wollen, weil es ihre behüteten Lebensumstände in Frage stellen könnte. Dabei haben die Geschehnisse System, das macht Borderline Europe deutlich:

„Die EU-Kommission setzt ebenso wie die meisten nationalen Regierungen ungeachtet tausender Opfer weiterhin vor allem auf die nach militärischen Prinzipien organisierte Abschottung gegen Flüchtlinge und MigrantInnen: Unter Führung der EU-Agentur „Frontex“ ist eine ganze Armee aus Militär, Polizei und Grenzschutz mit modernstem Kriegsgerät damit beschäftigt, Menschen am Grenzübertritt zu hindern. (…)

An den östlichen Grenzen der EU hat die betriebene Abschottung nicht die dramatischen Konsequenzen wie im Mittelmeer und vor den Kanarischen Inseln. Aber auch hier finden vielfältige Menschenrechtsverletzungen statt, sei es durch lang andauernde Inhaftierungen von Flüchtlingen, durch den Ausbau menschenunwürdiger Flüchtlingslager und durch die Rückschiebungen von Flüchtlingen.

Menschen, die Flüchtlingen und MigrantInnen in ihrer Not helfen und Leben retten, werden in zunehmendem Maße kriminalisiert, in dem sie vor Gerichten wegen Fluchthilfe für ihr humanitäres Verhalten angeklagt werden.“

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All dies werde zudem von offizieller Seite systematisch verschwiegen. Ein Vorwurf, den man auf Anhieb ernst nimmt, denkt man daran, dass diese Thematik sowohl in der Politik als auch in der etablierten Presse so gut wie kein ernstzunehmendes Forum hat. Dieses Forum hat Bierdel nun mit der Gründung von Borderline Europe geschaffen und plant, ein europaweites NGO-Netzwerk aufzubauen, um in Zukunft noch effektiver arbeiten zu können.

Indessen dokumentiert die Organisation auf ihrer Website akribisch zahlreiche weitere Flüchtlingsdramen, die seit dem Cap-Anamur-Desaster keinesfalls ein Ende genommen haben. Die Aktion macht aber auch Mut, schon so kurz nach ihrem ersten Auftreten: Denn auch zahlreiche Hilfsansätze und Überlegungen, wie sich die Situation verbessern ließe, finden sich auf den Internetseiten Bierdels. Bestehen bleibt die Frage, wie effektiv Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen auch in Zukunft intervenieren können, solange eine Kooperation mit nationalen Regierungen oder gar auf EU-Ebene aussichtslos zu sein scheint.