800 Euro für alle Bürger?

Das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut hält ein bedingungsloses Grundeinkommen für "volkswirtschaftlich effizient" und "finanzierbar"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) favorisiert seit geraumer Zeit die Idee eines solidarischen Bürgergeldes, das die deutsche Sozialpolitik auf eine völlig neue Basis stellen könnte. Wenn sein Konzept jemals umgesetzt würde, bekäme jeder Bundesbürger nach seinem 18. Lebensjahr ein garantiertes, bedingungsloses Grundeinkommen von monatlich 800 €. Ein Viertel dieser Summe wäre als Gesundheits- und Pflegeprämie vorgesehen. Der Spitzensteuersatz für darüber hinausgehende Einkommen läge bei 50 Prozent, allerdings hätten die Empfänger die Chance auf eine deutlich geringere „Flat Tax“ von 25 Prozent, wenn sie nur die Hälfte des Bürgergeldes in Anspruch nähmen.

Der schonungslose Gebrauch des Konjunktivs macht deutlich, welche Realisierungschancen einem solchen Projekt gemeinhin eingeräumt werden. Die Vorstellung, die Vielzahl staatlicher Transferleistungen zu bündeln und den Dschungel der Steuertarife zu lichten, ist offenbar zu simpel, als dass jemand ernsthaft glauben könnte, sie ließe sich in der regulierungsfreudigen Bundesrepublik ohne Widerstände und auch noch zeitnah in praktische Politik verwandeln. Trotzdem findet der Kombilohn für alle offenkundig immer mehr und zunehmend parteiübergreifende Unterstützung. Deutliche Zustimmung kam nicht nur aus den Reihen von CDU und FDP, sondern auch von Seiten der Linkspartei und der Grünen.

Wenige Tage nachdem Götz W. Werner, Gründer der Drogeriemarktkette „dm“, auf der Leipziger Buchmesse mit seinem Plädoyer Einkommen für alle für Diskussionsstoff sorgte, stellte das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) nun am Montag in Berlin eine umfangreiche Untersuchung vor. Die Studie mit dem programmatischen Titel Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld - mehr als sozialutopische Konzepte geht davon aus, dass ein bedingungslos gewährtes Grundeinkommen in Höhe von 600 bis 800 Euro pro Monat für jeden einzelnen Bundesbürger lebenslang kostenneutral finanziert werden kann. Und damit nicht genug. Auf diese Weise soll auch noch die Nachhaltigkeit des Sozialstaats gesichert und eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze geschaffen werden.

Umverteilungs- und Sozialsystem mit höchster Effizienz

Die federführenden Autoren der Studie sind drei renommierte Lehrstuhlinhaber: Thomas Straubhaar, Direktor des HWWI, unterrichtet an der Universität Hamburg Volkswirtschaftslehre und internationale Wirtschaftsbeziehungen, Michael Opielka lehrt an der Fachhochschule in Jena Sozialpolitik, und Michael Schramm vertritt die Bereiche katholische Theologie und Wirtschaftsethik an der Universität Hohenheim. Alle drei sind davon überzeugt, dass sich mit dem Grundeinkommen ein „einfaches und transparentes Umverteilungs- und Sozialsystem mit höchster Effizienz“ entwickeln lässt. Es blockiert ihrer Einschätzung nach nicht nur die Tendenzen zu Verarmung und Bürokratie, sondern wirkt motivierend und effizienzsteigernd, setzt positive Beschäftigungsimpulse und erweist sich überdies - durch die Vermeidung einer Manipulation der Marktpreisbildung bei gleichzeitiger Einkommensumverteilung - als „volkswirtschaftlich effizient“.

Das Bürgergeld soll die meisten anderen Sozialleistungen ersetzen. Nach seiner Einführung gibt es also voraussichtlich weder Arbeitslosengeld I, Arbeitslosengeld II, Sozialgeld oder Hilfe zum Lebensunterhalt noch BAföG, Kindergeld, Elterngeld, Renten oder Pensionen.

Für alle 82,5 Millionen in Deutschland lebenden Personen gibt der Staat pro Person jährlich insgesamt 8.400 € aus, davon mehr als 7.500 € in Form direkter Leistungen. Diese Summe stünde also bei einem vollständigen Systemwechsel und einem ebenso vollständigen Verzicht auf alle heute im Rahmen des Sozialbudgets finanzierten Leistungen (inklusive der Kosten der Sozialbürokratie) für ein Grundeinkommen zur Verfügung.

Grundeinkommen-Studie

Zur Finanzierung eines Beitrags in Höhe von 800 Euro müssen Konsumsteuern neu gestaffelt und Steuersätze von 10 Prozent auf jedes weitere Einkommen erhoben werden. Für alle übrigen Staatsausgaben werden weitere 51 Prozent veranschlagt, so dass sich ein Gesamtsteuersatz von 61 Prozent ergibt.

Konkret bedeutet das: Wer ein Bruttoeinkommen von 1.311 Euro hat, zahlt eine Brutto-Einkommenssteuer von 800 Euro, die durch das Bürgergeld aufgefangen wird. Am Ende fällt hier also gar keine Steuerbelastung an. Wer nur 1.000 Euro bekommt, erreicht ein Nettoeinkommen von 1.190 €, von einem Bruttoeinkommen in Höhe von 5.000 Euro bleiben 2.750 Euro netto.

Das Projekt sieht trotz gleicher Sätze also eine progressive Steuerbelastung vor. Das gilt auch für den Fall, dass lediglich ein Grundeinkommen von 600 Euro gezahlt wird. Der Steuersatz läge dann bei 49 Prozent, ein Bruttoeinkommen von 1.224 Euro bliebe in diesem Fall steuerfrei.

Ein Plus an subsidiärer Befähigungsgerechtigkeit

Die Autoren schlagen vor, das bedingungslose Grundeinkommen zunächst auf der Basis des von Dieter Althaus angeregten solidarischen Bürgergeldes inklusive der geplanten Gesundheitsprämie einzuführen. Sie rechnen damit, dass ihr Projekt sich wenigstens als kostenneutral erweist, halten einen jährlichen Überschuss von bis zu 50 Milliarden Euro aber für eine durchaus „realistische Annahme“. In der Folge prognostiziert die Studie eine Reihe positiver Effekte für Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt, den deutlichen Rückgang der Schwarzarbeit und die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen im Umfang von über 1 Million Vollzeitstellen im Niedriglohnbereich.

Für den Theologen und Wirtschaftsethiker Michael Schramm reichen die Vorteile eines bedingungslosen Grundeinkommens allerdings weit über den finanziellen, fiskalischen oder arbeitsmarktsmarktpolitischen Bereich hinaus. Es sei schließlich auch „ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu mehr gesellschaftlicher Solidarität, zu mehr Subsidarität und zu mehr (sozialer) Gerechtigkeit“. Das Bürgergeld ist in seinen Augen eben gerade keine „Faulenzerprämie“, sondern im Gegensatz zu den noch immer heftig umstrittenen Hartz-IV-Regelungen ein „aktivierendes Sprungbrett“. Schramm glaubt, das sich die Vorschläge nicht an moralischen Appellen, sondern an Wirklichkeitsfaktoren orientieren und also einem „anthropologischen Realismus verpflichtet“ sind. Davon abgesehen entsprächen sie den Forderungen der katholischen Soziallehre und erzielten so ein „deutliches Plus an subsidiärer Befähigungsgerechtigkeit“, sprich: mehr Hilfe zur Selbsthilfe.

Offene Fragen

Ob das im April 2005 gegründete Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut seiner Selbsteinschätzung als „moderner Think Tank“ mit dieser Studie gerecht geworden ist, wird in den nächsten Tagen und Wochen sicher kontrovers diskutiert werden. Denn es gibt eine Reihe offener Fragen, die noch schlüssig beantwortet werden müssen. Sie betreffen zunächst die finanziellen Basisdaten, die übrigens schon seit Mitte der 90er Jahre umstritten sind: Wenn es ohne weiteres möglich wäre, einen Jahresüberschuss von 50 Milliarden Euro zu erwirtschaften, hätten sich voraussichtlich schon deutlich mehr Experten in die Reihe der Befürworter gestellt, und die Autoren konzedieren selbst eine erhebliche Schwankungsbreite in den bisherigen Berechnungen.

Je nach den hierüber getroffenen Annahmen ergeben sich für ein Grundeinkommen von 800 € (inkl. 200 € Versicherungsgutschein) Nettokosten im Vergleich zu den heutigen Sozialausgaben zwischen 159 Mrd. und 454 Mrd. €. Für ein Grundeinkommen von 600 € ergibt sich eine Spannbreite zwischen 39 Mrd. € Netto-Kostenreduktion und 256 Mrd. € Nettokosten jährlich.

Presseerklärung HWWI´

Wie sich die Einführung eines Bürgergeldes auf die gesamten Sozialsysteme, den Staatshaushalt und den deutschen Arbeitsmarkt auswirken würde, ist derzeit ähnlich schwer abzuschätzen. Über die Höhe und den Adressatenkreis darf fleißig gestritten werden, und das gilt erst recht für psychologische und sozialethische Aspekte. Ob das Bürgergeld tatsächlich motiviert, aktiviert und die Empfänger sich moralisch zu einer angemessenen Gegenleistung verpflichtet fühlen, kann niemand seriös vorhersagen, und um die Frage zu klären, ob sich auf eine solche Weise überhaupt soziale Gerechtigkeit herstellen und Solidarität organisieren lässt, bedürfte es vermutlich der Einsetzung einer philosophischen Grundsatzkommission.

Die SPD, der lange Zeit gar nichts zum Bürgergeld einfiel, hat sich mittlerweile entschlossen, das Ganze als „konservative Stilllegungsprämie“ zu betrachten. Doch für Pauschalurteile ist die Lage der Arbeitssuchenden, der Hartz-IV-Empfänger und der Menschen, die im Niedriglohnbereich ein von führenden Sozialdemokraten ausdrücklich als sittenwidrig empfundenes Einkommen beziehen, zu ernst.

Es darf und muss also weiter diskutiert und gerechnet werden, und vielleicht bringt in absehbarer Zeit ein Pilotversuch – wie er beim Kombilohn-Modell verschiedentlich initiiert wurde - weitere Aufklärung. Schließlich bietet das Thema auch diverse Ansatzpunkte und Betrachtungsweisen, die in hohem Maße konsensfähig sein könnten.

Alles auf Erden hat zwei Seiten, weist also komparative Vor- und Nachteile auf. Auch das „Solidarische Bürgergeld“ kann da von vornherein keine Ausnahme machen. Entscheidend ist schlussendlich der Saldo von Vor- und Nachteilen. Denn nicht das Gerechte, sondern nur das weniger Ungerechte liegt in unserer Hand.

Fazit Michael Schramm, in: Grundeinkommen-Studie