6000 Flüchtlinge starben vor den Kanarischen Inseln

2006 war ein trauriges Jahr für Flüchtlinge und markiert das Versagen von Frontex, die Wege nach Europa abzuschotten

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Etwa 6.000 Menschen haben auch in diesem Jahr ihr Leben beim Versuch verloren, aus Westafrika auf die spanischen kanarischen Inseln zu gelangen. Das schätzt die Regionalregierung der Inselgruppe. Weder der Einsatzes der EU-Grenzschutzbehörde Frontex mit Luft- und Seeüberwachung, noch Patrouillen vor Mauretanien und Senegal haben verhindert, dass mehr als 31.000 Flüchtlinge und Einwanderer die Urlaubsinseln erreichten. Spanien will nun 180.000 Stellen in den Herkunftsländern besetzen lassen.

Am Donnerstag kamen wieder 149 Menschen in vier Booten auf den Kanarischen Inseln an. Weder hohe Wellen noch schlechtes Wetter halten sie ab, sich auf die tage- oder wochenlange Reise zu machen. Die Regionalregierung der Kanaren hat nun Zahlen genannt, die das Ausmaß der Tragödie erahnen lassen, die sich hinter dem Phänomen verbirgt. Gegenüber der Radiokette SER sagte der Vize-Leiter der Immigrationsabteilung Froilán Rodríguez, im laufenden Jahr hätten etwa 6.000 Menschen die Überfahrt nicht überlebt: "Wir sprechen von einem dramatischen Aderlass dem sich die nationalen und internationalen Institutionen annehmen müssen."

Das ist eine Schätzung. Sie beruht auf Zahlen vom Roten Halbmond und anderen Nichtregierungsorganisationen, die versuchen die Menschen zu zählen, die sich in Mauretanien und dem Senegal auf den Weg machen. Andere Schätzungen gehen weit darüber hinaus. Allerdings ist unklar, worauf sie beruhen. Realistisch ist die Zahl allemal, denn schon im letzten Jahr hatte sowohl die Guardia Civil und der spanische Geheimdienst das Verschwinden von Tausenden auf dem langen und gefährlichen Seeweg bestätigt ("Massensterben" vor den Kanarischen Inseln).

Seither hat der Zustrom deutlich zugenommen, die Wege wurden länger und gefährlicher. Dass dieses Jahr etwa 800 Leichen geborgen wurden, zeigt das Massensterben deutlich an. Hält man sich vor Augen, um welche Strecken es sich dreht, dürfte klar sein, dass der überwiegende Teil der Leichen nicht gefunden wird. Denn die verstärkte Abschottung führte zu extrem langen Wegen. Waren es früher überschaubare 50 Kilometer über die Meerenge von Gibraltar, wurden inzwischen sogar Boote registriert, die in Guinea-Bissau starten. Sie müssen also mehr als 3.000 Kilometer zurücklegen. Das ist ein Ergebnis davon, dass nach Marokko und Mauretanien später auch Senegal teilweise in die EU-Politik eingebunden werden konnte. Die Vermutung, dass die Boote von großen Schiffen zunächst nahe an die Kanarischen Inseln herangebracht werden, konnte nicht bestätigt werden, räumte die spanische Regierung derweil ein.

Weder gemeinsame Patrouillen der Guardia Civil mit den Grenzschützern der Herkunftsländer noch der Frontex-Einsatz mit seiner Luft- und Seeüberwachung vor Westafrika sind in der Lage, die Boote frühzeitig abzufangen (Völkerwanderung per Boot). Deshalb haben in diesem Jahr mehr als 31.000 Menschen die Fahrt auf die Kanaren überlebt. Das sind mehr als sechs Mal so viele Menschen als die 4.715, die im Vorjahr die Überfahrt geschafft haben. Bisher lag die Rekordmarke bei knapp 10.000 Menschen im Jahr 2002.

Aber auch andere Routen werden wieder stärker genutzt. Immer öfter werden kleine Boote wieder an der spanischen Südküste angetroffen, die von Marokko aus gestartet sind, obwohl diese Küsten elektronisch überwacht werden. Diese Woche kam es auch erneut zu einem Ansturm auf die Grenzzäune von Mellila. Drei größere Versuche wurden in den letzten Wochen registriert. Die Massenanstürme auf die von Marokko umschlossenen spanischen Exklaven Ceuta und Melilla hatten im vergangenen Jahr für Schlagzeilen gesorgt, weil bei der brutalen Abwehr etliche Schwarzafrikaner ums Leben kamen. Die Umstände sind bis heute nicht aufgeklärt, wie Amnesty International kürzlich erneut die spanische Regierung kritisierte. Marokko, der treueste Statthalter der EU-Abschottungspolitik in Afrika, fährt mit seiner menschenverachtenden Politik fort und setzt weiterhin aufgegriffene Schwarzafrikaner schlicht in der Wüste, zum Teil in vermintem Gelände, ab.

Trotz des langjährigen Scheiterns der Abschottungsversuche, steht bei der EU die tödliche Abwehr der Menschen weiter im Zentrum der Migrationspolitik. So beschloss der EU-Gipfel Mitte Dezember in Brüssel, dass der Schutz der EU-Außengrenzen über ein "ständiges Küstenpatrouillen-Netz an den südlichen Seegrenzen" weiter verstärkt wird. Spanien bastelt mit EU-Hilfe sogar an einer teueren Satellitenüberwachung. Auch mit Massenabschiebungen, die dieses Jahr deutlich verstärkt wurden, lässt sich niemand abschrecken. Allein Spanien hat in den letzten beiden Jahren dafür schon 45 Millionen Euro ausgegeben. Dazu kommen weitere 25 Millionen für die Verschiebungen der Menschen innerhalb Spaniens.

Für die Abschottung und die Ausweisungen ist scheinbar unbegrenzt Geld vorhanden. Dabei ist allen klar, dass diese Politik solange scheitern wird, solange die Heimatländer der eigenen Bevölkerung keine Zukunft bieten können und einige lokale Ökonomien von den Überweisungen derer abhängen, die den gefährlichen Weg überleben. Nur der Blutzoll wird immer höher, der zur Durchdringung der Abschirmungsnetze bezahlt werden muss.

Wenn es aber um eine konkrete Hilfe in den Herkunftsländern geht, werden die Vorstellungen der reichen EU-Länder sehr unkonkret. Auf der Konferenz der EU mit Staaten der Afrikanischen Union (AU) im November in Tripolis wurde, wie schon in Rabat zuvor, nichts vereinbart. Weil die EU nicht einmal bereit war, den geforderten Entwicklungsfonds einzurichten, weigerten sich die Afrikaner dann, die geforderte Rücknahme ihrer Landsleute verbindlich festzuschreiben (Scheitern in Tripolis).

Zwar wurde in Tripolis versichert, man werde über die "Vereinfachung" der Verfahren "debattieren". Beim Gipfel in Brüssel wurde der Kelch aber dann nur an die EU-Kommission weiter gereicht. Die soll nun bis Mitte 2007 Vorschläge ausarbeiten. Spanien hat sich derweil zu einem Alleingang entschieden, wie zuvor schon in der Legalisierungsfrage. 180.000 Menschen sollen 2007 in den Herkunftsländern für Jobs in Spanien angeworben werden. In Madrid ist inzwischen angekommen, dass das Land von der Einwanderung profitiert.

Gerechnet wird auch damit, dass zahllose Menschen, die bei der letzten Legalisierung durch die Maschen gerutscht sind, in den nächsten Jahren über die so genannte Klausel zur "Verwurzelung" im Ausländergesetz doch noch an einen legalen Aufenthaltsstatus kommen. Die Kriterien dafür sind: Keine Vorstrafe, ein nachgewiesener Aufenthalt von drei Jahren, ein Arbeitsplatz und Familienangehörige, die im Land leben.