"Die Dinge kommen nur sehr langsam in Bewegung"

Die deutsche Sektion der Organisation "Ärzte gegen den Atomkrieg" setzt sich für die Rechte sogenannter illegaler Menschen ein. Zum Tag der Menscherechte ein Interview mit Jürgen Hölzinger

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Deutschland leben schätzungsweise 500.000 bis 1 Million Menschen, die keine offizielle Aufenthaltserlaubnis besitzen und von den Behörden abgeschoben werden, sobald sie aufgegriffen werden. Die sogenannten „Illegalen“ leben und arbeiten in einem Zustand der Rechtlosigkeit, der sie u.a. nicht selten der Willkür ihrer Arbeitgeber in der Schattenwirtschaft aussetzt. Verweigerte Lohnzahlungen und extreme Arbeitsbedingungen sind keine Seltenheit. Nur langsam entsteht auch in Deutschland ein Bewusstsein darüber, dass man sich mit dieser gesellschaftlichen Realität auseinandersetzen muss.

In Frankreich haben sich die sogenannten „Sans Papiers“ mit Unterstützung von Gewerkschaften, Prominenten und Politikern in der Öffentlichkeit längst Gehör verschafft. Hierzulande ist es weitaus schwerer: Initiativen aus den sozialen Bewegungen wie z.B. von Kanak Attack und der Flüchtlingsinitiative Brandenburg oder Aktionen wie die Transkontinentale Krankenkasse erhalten wenig öffentliche Aufmerksamkeit.

Mittlerweile nehmen sich allerdings auch etabliertere Organisationen dem Thema der „Illegalität“ an. So brachte es dieses Jahr das Manifest Illegale Zuwanderung des katholischen Forums Leben in der Illegalität und des Rates für Migration auf über 400 oftmals prominente Unterzeichner. Unter ihnen finden sich die damalige Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck, hochrangige Politiker und Richter, Professoren und Kirchenvertreter. Auch wenn der Text klare politische Forderungen vermeidet und äußerst vorsichtig formuliert ist, bedeutet er dennoch eine erste Auseinandersetzung mit dem blinden Fleck:

... wir [wollen] einen öffentlichen Diskurs in Deutschland anregen, der der Lage in Deutschland und den betroffenen Personen mit ihren unterschiedlichen Motiven, Zwängen und Lebenslagen gerecht wird und differenzierte Lösungen anstrebt. Die Unterzeichneten erachten den Zeitpunkt als gekommen, sich auch in Deutschland öffentlich und gesamtgesellschaftlich vermehrt mit dem Thema der irregulären Zuwanderung und dem irregulären Aufenthalt zu beschäftigen, um angemessene Umgangsformen mit den hier vorliegenden Problemen zu finden.

Aus dem Manifest Illegale Zuwanderung

Nun versucht auch die deutsche Sektion der Ärzte gegen den Atomkrieg mit ihrer Kampagne achten statt verachten den Blick auf eine Problematik zu lenken. Schließlich sind auch die Ärzte persönlich betroffen von der Tabuisierung, denn ihre medizinische Versorgung von „Illegalen“ kann für sie selbst rechtliche Konsequenzen haben. Ein Interview mit einem der Initiatoren der Kampagne, Jürgen Hölzinger.

Die Illegalen gelten fast schon als Kriminelle

Welche Erfahrungen haben Sie mit Ihrer Kampagne „achten statt verachten“ bisher gemacht?

Jürgen Hölzinger: Dem Thema der sogenannten „Illegalen“ will man sich nicht stellen. Sie gelten, wie ihr Name in Deutschland schon sagt, fast als Kriminelle. Da will man nicht so viel damit zu tun haben. Aber sie sind an vielen Stellen zu finden: in der Bauwirtschaft, der Landwirtschaft und in privaten Haushalten. Bei der Pflege zum Beispiel. Es gibt viele alleinstehende Menschen, die gepflegt werden müssen, wo eine reguläre Pflege gar nicht zu bezahlen ist. Da kann es sein, dass dann Leute mit in der Wohnung wohnen und sie versorgen. Also da ist auch ein großer Bedarf. Generell wird mit diesen sogenannten „Illegalen“ ein Sektor bedient, der sonst nicht bedient werden kann.

„Illegalität“ heißt für die Betroffenen, dass die Notwendigkeit z.B. eines Arztbesuchs und der Behandlung ihrer Krankheiten nur sehr schwer zu organisieren ist.

Jürgen Hölzinger: Also es gibt drei Problemfelder: Einmal ist es die fehlende Gesundheitsversorgung, zum anderen die fehlende Möglichkeit, die Kinder in die Schule zu schicken oder in den Kindergarten, das dritte ist die fehlende Einklagbarkeit des Lohns für geleistete Arbeit. Denn auch jemand, der Schwarzarbeit leistet, hat eigentlich das Recht, den vereinbarten Lohn zu bekommen. Nur das ist eben illusorisch für solche Leute.

Haben Sie aus Ihrer eigenen Praxis einen Überblick, wie hoch der medizinische Bedarf ist?

Jürgen Hölzinger: Ich bin jetzt 64 Jahre und nicht mehr tätig. Ich war Urologe und kann schlecht abschätzen, wie viele Menschen kamen, sie wurde eben von den Büros für medizinischen Flüchtlingshilfe vermittelt und standen dann plötzlich mitten in der vollbesetzten Praxis und hatten, wenn es gut ging, einen Dolmetscher dabei, wenn es schlecht ging, keinen. Es waren am Ende in der Mehrheit nicht so gravierende Fälle, wobei auch zwei junge Männer dabei waren, die jeweils ein Hodenkarzinom hatten. Das gab dann erhebliche Probleme, die mussten operiert werden, brauchten eine Chemotherapie, mussten nachuntersucht werden, Röntgenaufnahmen mussten erstellt werden . Also, das waren echte Probleme, da hat man sehr schön auch seine eigenen Kollegen einschätzen können. Wenn man angerufen hat, um Hilfe zu bekommen, haben manche den Hörer sofort fallen lassen, und man wusste danach, auf wen man sich verlassen konnte.

Wer zahlt derzeit die Behandlung von Illegalen?

Jürgen Hölzinger: Das tragen die Ärzte selbst. Es gibt offiziell noch die Möglichkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes. Im akuten Notfall bei starken Schmerzen kann eine Behandlung erfolgen, deren Kosten vom Sozialamt übernommen wird. Mit der Folge: Wenn das Sozialamt die Daten bekommt, dann ist es als offizielle Stelle verpflichtet, die Daten an das Ausländeramt weiterzugeben. Wenn der Kranke dann Pech hat, kommt er aus dem Krankenhaus und wird gleich abgeschoben. Deswegen gehen sie auch nicht ins Krankenhaus, die wissen das natürlich. Also drücken sie sich, so lange es geht, vor einem Arztbesuch, tauchen unter, verschleppen Krankheiten und wenn sie ansteckende Krankheiten wie Aids, Tuberkulose oder Hepatitis haben, kann das auch eine Gefährdung für die Umgebung werden.

Angesichts der Zahlen von 500.000 bis 1 Million illegaler Menschen in Deutschland entstehen ja eine Menge privat übernommener Kosten...

Jürgen Hölzinger: Man muss aber auch berücksichtigen, dass die illegal hier lebenden Menschen ja meist jüngere Leute sind, die sind nicht so viel krank. Die haben vielleicht einen Unfall oder eine Blinddarmoperation, das sind ja nicht die multimorbiden Leute. Wer sich bis hierher durchgeschlagen hat, der hat schon eine robuste Natur. Es sind nicht so viel Kosten, die anfallen.

Wenn jemand unsere Hilfe braucht, dann fragen wir nicht nach dem Ausweis

Wie wird denn das Thema insgesamt in der Ärzteschaft diskutiert?

Jürgen Hölzinger: Also offiziell wird es sehr gut angenommen. Zum letzten Deutschen Ärztetag hatten wir hier aus Berlin eine Resolution vorgelegt, es ging um die drei Standardpunkte, die immer wieder gefordert werden: Rechtssicherheit für Ärzte, um die Aufhebung der Übermittlungspflicht und um die Kostenregelung. Die Resolution wurde von den über 200 Delegierten einstimmig angenommen. Es gibt in der Standespresse auch immer wieder Artikel, die uns unterstützen, also da ist eigentlich eine Sensibilität da. Und wenn ich von Berlin ausgehe, gibt es eine ausreichende Anzahl von Kolleginnen und Kollegen, die da mitmachen.

Wie sieht die behördliche Praxis im Umgang mit der Illegalität aus?

Jürgen Hölzinger: Das ist von Stadt zu Stadt und von Land zu Land unterschiedlich. Hier in Berlin gib es eigentlich einen modus vivendi, wie man miteinander auskommt. Der Innensenator Körting hat uns ganz offiziell geschrieben, dass Ärzte sich nicht strafbar machen. Wir haben die schriftliche Zusicherung der Rechtsicherheit, wobei wir aber eine grundsätzliche Rechtssicherheit fordern. Es kann nicht sein, dass wir vom Wohl von einzelnen Politikern abhängen, die ja auch wieder abgewählt werden können. Wenn wir als Ärzte humanitäre Hilfe leisten, dann ist das keine Beihilfe zum illegalen Aufenthalt. Das Gesetz, das dies unter Strafe stellt, ist gedacht für Schlepper und Menschenhändler. Wir werden da in einen Topf geworfen, auch Sozialarbeiter oder Menschen, die in kirchlichen Initiativen arbeiten. Das wird einfach nicht geändert. Wir argumentieren: Wenn jemand vor uns steht und unsere Hilfe braucht, dann fragen wir nicht nach Pass oder Chipkarte und im Notfall behandeln wir den auch kostenlos.

Sie verweisen auch auf eine andere Praxis im Umgang mit Illegalen in anderen EU-Ländern. Was läuft da anders als hier?

Jürgen Hölzinger: Es ist hauptsächlich Italien, Frankreich ist leider auf dem Weg, alles wieder zu verschärfen. In Italien ist es so, dass sich die Menschen dort kostenlos medizinisch behandeln lassen können. Sie werden nur als anonyme Nummer registriert und abgerechnet und müssen ihren Namen nicht preisgeben. Das ist eine Regelung, die wir auch gerne hätten. In Spanien ist es wohl ähnlich.

In Spanien gab es ja auch eine große Legalisierungswelle mit über 700.000 Anträgen.

Jürgen Hölzinger: Wobei man natürlich wissen muss, dass die Spanier da ein großes Interesse haben, Arbeiter für die Landwirtschaft zu bekommen.

Es scheint auch hier in Deutschland langsam die Bereitschaft zu wachsen, sich dem Thema „Illegalität“ zu öffnen, beispielsweise mit dem „Manifest Zuwanderung“, das eine lösungsorientierte Diskussion fordert.

Jürgen Hölzinger: Das Manifest „Illegale Zuwanderung“ ist ein gutes Beispiel dafür, dass dieses Thema eigentlich kein Schmuddelthema mehr ist. Das habe ich auch immer gedacht. Aber das Spektrum der Unterzeichner ist sehr vielfältig, es geht quer durch alle Parteien, das sind nicht nur die üblichen Verdächtigen, sondern auch Menschen, von denen man es nicht annimmt. Die haben aber nicht die Forderung „Legalisiert die Illegalen“ unterschrieben, sondern sie haben damit gesagt, dass es ein Problem ist, das man nicht länger verdrängen kann oder für das nur die Polizei zuständig ist, damit die Leute abgeschoben werden. Ich denke, dass die Dinge in Bewegung kommen. Aber das geht alles sehr langsam.

Die Menschen, die hier sind, müssen ihre elementaren Menschenrechte bekommen

Steht einem wirklichen Stimmungswandel nicht vielleicht auch eine teils offene, teils versteckte Ausländerfeindlichkeit in Deutschland gegenüber? Zudem stünde die Forderung im Kontrast zum derzeitigen Politikstil der massiven Sozialkürzungen.

Jürgen Hölzinger: Dass diese Ängste bestehen, ist seit Jahren bekannt. Ebenso bekannt ist das immer wieder gehörte Argument, dass wir uns das nicht leisten könnten. Jetzt müssen allerdings auch EU-Vorgaben umgesetzt werden und so steht im Koalitionsvertrag, dass man das Thema „Illegalität“ auf den Prüfstand stellt – was immer das heißt. Ich denke, dass auch im Moment mit der großen Koalition keine der großen Parteien Angst haben muss, einen massiven Wählereinbruch zu haben, was ja immer als Argument vorgeschützt wird. Wenn die jetzt eine vernünftige Regelung machen würden, hätten sie auch die Opposition mit im Boot, denn bei FDP, Grünen und Linkspartei ist kein Widerstand zu erwarten, im Gegenteil. Also: Jetzt gibt es eine kurze Zeit, um etwas im Sinne der Menschen zu ändern. Mit unserer Kampagne und der heutigen Konferenz möchten wir auch mit Politikern ins Gespräch kommen und hoffen, dass auch der Präsident der Bundesärztekammer, Professor Hoppe, aktiv wird. Er vertritt ja in seinen Argumentationen genau diese Line.

Die Forderung muss ja nicht sein, sie alle zu legalisieren. Es geht darum, dass wir die allgemeinen Menschenrechte einfordern. Alle zeigen auf Guantanamo, auf die Amerikaner, auf die Enklave Ceuta in Marokko, wo sie die Migranten in die Wüste geschickt haben, und sagen: Das darf nicht sein. Aber die Menschen, die hier sind, behandeln wir ja auch nicht viel anders, wenn wir sie nicht medizinisch behandeln dürfen oder ihre Kinder nicht in die Schule können. Oder wenn wir sie abschieben: dann landen sie auch wieder in ihrer Wüste zuhause. Nur sehen wir es nicht. Das ist eine sehr zwiespältige Art und Weise des Verhaltens. Es geht einfach darum: Die Menschen, die hier sind, müssen ihre elementaren Menschenrechte bekommen. Man kann die Welt nicht nur nach den ordnungspolitischen Vorstellungen einrichten, sondern muss sehen, wie die Wirklichkeit ist.

Vielleicht tut sich die Politik auch deshalb so schwer, weil die Aufhebung der Illegalität auch zur Folge hätte, dass die jetzt Illegalen auf den legalen Arbeitsmarkt drängen würden.

Jürgen Hölzinger: Ach wissen Sie, die Politik spricht auf der anderen Seite immer vom demografischen Problem. Die Alterpyramide wird zum Pilz, Brandenburg ist leer, wir brauchen Zuwanderung. Selbst in der CDU bewegt sich etwas und sie geben zu, dass wir ein Zuwanderungsland sind. Da kann man doch mit denen anfangen, die hier sind.